Aufwärts im Mosel-Valley

Der Bremmer Calmont ist der steilste Weinberg Europas. Nur wenige Winzer meistern denalpinen Hang: Das Ergebnis der Quälerei im kargen Fels können grandiose Rieslinge sein

von TILL DAVID EHRLICH

Die spinnen, die Moselaner, denke ich, als die Zahnradbahn anruckt. Die winzige Ladefläche wackelt beängstigend, ich halte mich an einem klapprigen Eisenrohr fest. Drei Sekunden später neigt sich das Gefährt um fast 90 Grad über einen Abgrund, Blut schießt in den Kopf, Schweiß auf die Stirn. Das felsige Terrain steigt fast senkrecht an. Unten die Mosel, oben der Himmel, dazwischen ein Passagier in leichter Panik. Dann neigt sich die Bahn wieder zurück – eine Achterbahnfahrt in Zeitlupe. Bis zu 65 Grad Hangneigung hat der Berg. „Das hier ist keine liebliche Mosel“, sagt Ulrich Franzen. Der 47-Jährige steht vorn, bedient den leise knatternden Verbrennungsmotor der Zahnradbahn, auch „Monorack“ genannt.

Wie ein Amphitheater öffnen sich die Felswände des Calmont zum Tal. Die Mosel windet sich hier sich in ihrer engsten Schleife um den Berg. Seit fast einer Million Jahren schleift nun schon das weiche Wasser den harten Stein des Calmont. Fast 400 Meter tief hat sich die Mosel ins Calmontmassiv hineingefressen. Und ein gigantisches Naturschauspiel aus Fels, Stein und Reben geschaffen, das die Bühne für einzigartige Weine sein kann. Allerdings schöpfen bislang nur wenige Winzer die Möglichkeiten wirklich aus. Nur wenigen gelingt es, das grandiose Terroir in die Flasche zu bekommen und damit auf der Zunge sinnlich erlebbar zu machen. Einer von ihnen ist Ulrich Franzen. Er gehört zu einer kleinen Schar von Winzern, die im Unterlauf der Mosel die Zeitenwende im Weinbau eingeleitet haben.

Die Bahn klettert über karges Schiefergeröll. Ein felsiger Kessel, in dem die Hitze flimmert. Grau und spitzig ist das Gestein. Darin spießen Pfähle, Weinstöcke klammern sich daran fest. Wer hier Trauben ernten will, muss fit sein, muss seine Muskeln einsetzen. Seit die Römer im dritten Jahrhundert die ersten Reben pflanzten, hat sich daran wenig geändert. Der Name Calmont kommt vom lateinischen Calidus Mons, dem heißen Berg. Aber auch von Calvus Mons, dem kahlen Berg – beides trifft den Charakter des gewaltigen Felsens, weist auf Bedingungen der Natur hin, die zu großen Weinen führen können.

Inzwischen sind wir 200 Meter über der Mosel aufgestiegen, und noch immer strebt die Bahn gen Himmel. Mir ist übel, schwindelfrei sollte man hier schon sein. Kaum vorstellbar, dass an diesem Abhang gearbeitet wird. Nur die Passion führt einen Winzer auf dieses Terrain, selbstlose Hingabe ist erforderlich, um gute Trauben zu ernten.

In 330 Metern Höhe endet die Bahn an einem Plateau. Hier öffnet sich der Blick auf den Steilhang, Fachkaul genannt. Kaulen sind Kuhlen zwischen den Felsgraten, in denen der Wein angebaut wird. Wellenförmig durchziehen die Kaulen den Calmont, unterbrochen von schroffen Schieferklippen. Wie Adlerhorste hängen Reste von Weinbergsmauern zwischen den Felsrippen. Der Weinbau in den Kaulen geht zurück – am Calmont ist die Natur stärker als der Mensch. Häufig sieht man aufgegebene Terrassen und eingestürzte Mauern. Dort, wo einst Reben gepflegt wurden, wachsen Büsche und Bäume. Und immer wieder ragen wie Gespenster schwarze Rebpfähle mitten aus dem Gestrüpp. In den 50er Jahren waren noch 18 Hektar am gesamten Calmont mit Wein bepflanzt, knapp 9 Hektar sind übrig geblieben. Die Wildnis rückt vor. Sie ist an vielen Stellen undurchdringlich, durch den Calmont führen weder Wege noch Straßen, nur schmale Pfade winden sich hindurch.

Unten im Tal, am Fuße des Calmont, liegt Bremm. Ein Ort mit engen Gassen und weitem Blick auf den Calmont. Der Großteil des lokalen Tourismus ist seit Jahrzehnten auf die Busreisenden eingestellt. Kaffeefahrten zum billigen Moselwein. Man kann auch billigen Riesling aus dem Calmont kaufen. Eine Flasche für bis zu zwei Euro Tiefstpreis. Der Winzer, der sich im Steilhang müht, verramscht seine wertvolle Arbeit. Die Krise betrifft vor allem die Fassweinwinzer, die Preise sind auf Nachkriegsniveau gesunken. Statt auf Qualität zu setzen, die Erträge zu senken und das Potenzial des Calmont zu nutzen, lassen sich viele Erzeuger von der Billigspirale immer weiter nach unten ziehen. Gleichzeitig erleben qualitätsorientierte Selbstvermarkter einen Aufstieg. Die Hymnen in den internationalen Weinmagazinen über den grandiosen Jahrgang 2001 klingen noch nach.

Fast einen Hektar Wildnis hat Franzen seit dem Frühjahr 2002 gerodet und begonnen mit Riesling zu bepflanzen. „Wer an einem Tag im Calmont Platz für drei Reben schafft, hat was geleistet“, sagen die Winzer. Insgesamt 6.000 Reben will Ulrich Franzen im Calmont pflanzen, 1,5 Hektar neu angelegte Rebfläche werden es in fünf Jahren sein. Ein kleines Wunder. Der Verfall der Steillage wird gestoppt, ein neues Zeichen des Aufbruchs gesetzt. Immer mehr Winzer besinnen sich auf das Potenzial des Calmont. Das Gejammer von der Krise um den Weinbau an der Mosel motiviert sie, die Rückkehr des Rieslings in den Calmont mit aller Kraft voranzubringen. Sie wissen, was ihr Projekt für die Region bedeutet. Es ist ein Rekultivierungsprogramm mit Vorzeigecharakter für den nationalen und internationalen Steillagenweinbau. Dabei hat ein Mann eine wesentliche Rolle gespielt: Bernd Ternes vom Kulturamt Mayen. Er hatte die Vision, den Weinbau in den Terrassen am Calmont neu zu beleben. Ternes war klar, dass nur ein Spitzenwinzer das Wagnis eingehen könne. Nur wenn Qualität, Philosophie und Marketing eine Einheit bilden, macht die Rekultivierung Sinn. Klar war auch, dass es eine zusammenhängende Fläche sein müsste, um überhaupt rentabel arbeiten zu können. Also leistete Ternes jahrelange Überzeugungsarbeit, bewog 42 Winzer zum Verkauf, so dass aus 112 Parzellen ein zusammenhängender Weingarten entstehen konnte. Die Wildnis begann Franzen dann im Frühjahr 2002 zu roden. Im Sommer wurde mit dem Bau der Monorackbahn begonnen. Ohne dieses Transportinstrument ist hier kein wirtschaftliches Arbeiten möglich.

Quer durch den Steilhang führt seit zwei Jahren ein Pfad. Kein bequemer Wanderweg, eher ein alpiner Klettersteig. Er geht über Felsspalten, Klippen und Steilwände, führt direkt durch die Steillagen – mit Leitern, Seilen und Steigeisen, installiert vom Deutschen Alpenverein. Am Wochenende wird’s hier eng, in Scharen kommen Großstädter zum Klettern. Sie sind jung, Natur- und Sportfreaks, die das wilde Gelände am Calmont anzieht. Wenn sie mit knalligen Trekkingtrikots im Calmont klettern, reiben sich die Winzer erstaunt die Augen. Sie sind begeistert von der neuen Klientel. „Der Calmont“, sagt Bernd Ternes, „ist ein absolutes Mutmachprojekt“.

Am Gebüsch zerrt der Wind, auf den blauen Schiefer brennt die Sonne. Es herrscht fast mediterranes Klima. Der Felskessel ist nach Süden exponiert. Wie Kollektoren strahlen die Felsen nachts die Wärme des Tages an die Reben ab. Ulrich Franzen holt eine Flasche Riesling aus dem Rucksack und entkorkt sie. Ein „Calidus Mons“, Jahrgang 2001. Er stammt von 60-jährigen Reben aus dem unteren, nicht aufgegeben Teil der Fachkaul. Er belegt eindrucksvoll, welch große Lage dieser Berg ist. Die intensiven Aromen von Zitronenthymian, Feige und frischer Walnuss sind von strenger Mineralität geprägt. Aufregend sind die reife Säure und der Schmelz. Der Wein ist vollkommen harmonisch und zugleich voller Spannung und Wucht. Franzens Credo sind trockene Weine. Aber dieser wilde Wein hat nichts Dogmatisches.

Am Calmont wird nicht nur eine große Lage rekultiviert, hier wird ein neuer Weinstil gepflegt. Das sind keine fruchtsüßen filigranen Moselweine, es sind kraftvolle, trockene Weine. Sie erinnern in der Stilistik ein wenig an Reinhard Löwensteins grandiose Rieslinge. An der Terrassenmosel ist eine neue Generation ehrgeiziger Einzelkämpfer am Werk. Sie liefert sich dem Terroir aus, senkt radikal die Erträge. Misstraut technischen Tricks beim Weinausbau, vertraut der Natur. Die ist stark. So nährt sich der Riesling im Calmont allein vom Schiefer. Bodenanalysen haben Franzen bestätigt, dass er hier 20 Jahre lang nicht düngen muss. Der Calmont ist stark genug, dass der Riesling von ihm leben kann. 20 Meter tief gehen die Rebwurzeln in die Felsspalten, spüren unterirdische Wasseradern auf. Der blaue Schiefer ist versteinerter Meeresboden. Im Devon, vor 400 Millionen Jahren, war hier ein Meer. Die Spuren des urzeitliches Meeres klingen in der Mineralität des Rieslings nach. Sind im Glas sinnlich erlebbar.

Es geht abwärts, die Zahnradbahn knattert ins Tal. Wolkenfetzen ziehen über die Flanken des Calmont. Die Moselaner, denke ich, sind tough.