Love and Soul aus Tank OT6

Eine alte Dynamitfabrik beherbergt Bruce Jacks quirlige Flagstone Winery. Von hier kommen einige der ungewöhnlichsten Weine Südafrikas. Wichtig ist der „X-factor“: die Summe aller Extra-Anstrengungen, die aufwändige Handarbeit bedeuten

VON STEPHAN REINHARDT

Keine Winelands weit und breit, kein weiß getünchtes kapholländisches Haus, keine Klein-Constantia-Buitenverwachting-Postkartenidylle. Stattdessen: eine ehemalige Dynamitfabrik im alten Industriegebiet von Somerset West, Südafrika. Von der nah gelegenen False Bay rauschen die Wellen des Atlantischen Ozeans herüber, ein paar Möwen durchkreischen die Stille der Nacht.

Es ist vier Uhr und Bruce Jack längst im Tiefschlaf, als sein Wecker schrillt. Shit! Der Cabernet im Tank OT6! Er benötigt vier punch-downs täglich, erst drei hat er hinter sich. Kein Mensch auf der ganzen Welt wird es jemals merken, wenn ihm der vierte heute Nacht verwehrt wird. Es kann doch für den Wein keinen Unterschied machen, ob der Tresterhut nun nochmals unter den Wein getaucht wird oder nicht.

Bruce steht dennoch auf, nimmt das Holzbrett, wäscht es ab, sterilisiert den Stab, mit dem der Hut aus Beerenschalen und -kernen unter den Wein gedrückt wird, stellt eine Leiter an OT6, wankt die Sprossen hoch, legt das Brett über den Tank, steigt hinauf und beginnt sein schweißtreibendes, monotones Werk. Es wird die Farb- und Inhaltsstoffe aus den Beerenschalen in einen seiner feinsten Rotweine extrahieren: The Music Room.

Bruce weiß, was er tut. Und der Wein weiß es. Denn es sind Unternehmungen wie diese, die den Weinen der 1998 von Bruce gegründeten Flagstone Winery etwas Unverwechselbares, Einzigartiges geben: ein faszinierendes Konglomerat aus Sanftheit, Harmonie und brillanter Frucht. Bruce und sein junges Team nennen die Summe aller Extra-Anstrengungen, die auf Flagstone stets aufwändige Handarbeit bedeuten, den X-factor: „This is the love and soul you pour into the wine, for the wine’s sake only.“

Bruce Jack ist nicht nur ein der literarischen Welt abhanden gekommener Poet (es sei denn, man zählt seine Rückenetikett-Prosa zur Literatur). Der studierte Politik- und Literaturwissenschafter, Önologe und Agronom ist einer der talentiertesten Weinmacher Südafrikas. Und einer der innovativsten, originellsten und enthusiastischsten Persönlichkeiten der Weinszene am Kap.

Alles, was Bruce tut, ist anders. Bruce ist anders. Und Bruce’ junge Flagstone Winery ist das wohl ungewöhnlichste Weingut am Kap. Wenn man es denn als solches bezeichnen möchte. Denn eigentlich ist Flagstone kein Weingut im eigentlichen Sinne, sondern eine Werkstatt, eine Idee, der Bruce in der hundertjährigen Dynamitfabrik von Somerset West ihre Experimentierbühne geschaffen hat.

Die Idee: Wein zu erzeugen, der genuin Südafrika verkörpert, der die einzigartigen geologischen und klimatischen Formationen seiner Herkunft transportiert, die Millionen von Jahren alte Geschichte der Böden, das, was Bruce den „spirit of place“ nennt. Aus rund 40 verschiedenen, über das gesamte Western Cape verteilten, bis zu 1.000 Kilometer voneinander entfernten Lagen werden weiße und rote Trauben, teilweise in Kühlcontainern, nach Somerset West gefahren, um ausschließlich manuell und mit den Gesetzmäßigkeiten der Schwerkraft verarbeitet zu werden – ohne Verzögerung und so schonend wie möglich.

Schon im Weinberg rückt ihnen kein Gift auf die Pelle und auch im Keller soll ihnen jedes Unglück erspart bleiben: kein Pumpen und auch kein maschinelles Untertauchen des Traubenhuts.

Das Faszinierendste aber ist, dass Flagstone-Weine die Leidenschaft und Energie spürbar machen, mit der sie produziert werden. Ob nun der weiße Blend Noon Gun oder der rote Longitude, Free Run Sauvignon Blanc, Writer’s Block Pinotage, Dragon Tree Pinotage/Cabernet oder Poetry’s Collection Pinot Noir: Diese Weine sind Manifeste einer jungen Truppe von Enthusiasten, von „fearless winemaking warriors“ in rot befleckten T-Shirts und Blundstones, für die Weinmachen kein Business, sondern Berufung und Poesie zugleich ist. Sie schaffen Weine, mit denen man sich nicht nur herrlich betrinken kann, sondern die zum Essen passen, zur Unterhaltung, die Spaß machen, melancholisch machen, ja sogar träumen lassen: von einem Südafrika, in dem es keine eklatanten sozialen Ungleichheiten gibt. Klingt kitschig, ist es vielleicht auch, aber das ist die Vision, der Bruce Jack nachhängt: „Wir haben in Südafrika riesiges Potenzial für die Erzeugung großer Weine. Würden wir es besser nutzen, könnten wir dringend benötigtes Kapital ins Land holen, um die herrschenden sozialen Ungleichheiten aufzuheben.“

Bruce hat damit begonnen, indem er – für die Kap-Weinszene („white, male, afrikaans“) unüblich – Frauen und Xhosa in sein Projekt einbindet. Er nennt es „social upliftment through knowledge and action“ und schließt jene Teile der südafrikanischen Bevölkerung ein, die in Südafrika oft stark wirklichkeitsverzerrend „formerly disadvantaged people“ genannt werden.

14 Xhosa arbeiten bei Flagstone. Bruce lässt ihnen Lesen und Schreiben, Schwimmen und Tauchen beibringen. „Viele dieser Leute haben nie Lebensqualität entwickeln können“, sagt Bruce. Nun versucht er, ihnen Freude am Leben zu vermitteln und – den jüngsten – berufliche Perspektiven zu geben. Gerald, ein junger Xhosa und Flagstone-Mitarbeiter, besucht die Universität von Stellenbosch und hat bereits in Kalifornien praktiziert.

Elize, eine junge Weinmacherin aus Südafrika, am Kap mit nur wenig Chancen auf eine gute Anstellung, hat gerade einige Monate bei Reinhard Löwenstein an der Mosel gelernt, Riesling zu erzeugen. Sie wird Bruce auf die Finger schauen, wenn er im April seinen rassigen Riesling aus einer 1.200 Meter hoch gelegenen Lage in den Swartberg Mountains nach Somerset West transportiert, um seine Lieblingssorte Wein werden zu lassen.

Flagstone ist eben nicht nur ein Weingut, sondern eine Leidenschaft.