Das Klavier als Gitarre denken

„Gershwin passt immer“: Der Jazzsänger Andy Bey, der zu Unrecht noch immer als Geheimtipp gilt, gab im schlecht besuchten Quasimodo ein intensives, drei Stunden langes Konzert. Dabei gefiel vor allem sein zerbrechlicher Gesang

Andy Bey sitzt in der Mitte der Bühne vor dem geöffneten Flügel, in den sich schmale Mikrofone hineinbeugen. Schwarzer Anzug, schwarzer Rollkragenpullover, schulterlange Dreadlocks, um den Hals ein Amulett aus Jade.

Die Notenablage ist runtergeklappt, aber leer. Es gibt keine Noten. Nur eine Anzahl kleiner Hefte, in die mit schwarzem Filzstift in Druckbuchstaben die Songtexte geschrieben sind. Noch bei seinem Konzert im letzten Jahr stockte er mehrmals, erklärte entschuldigend, den Text vergessen zu haben, und blätterte in seinen Heften.

An diesem Abend blättert er nur einmal. Die Texte fließen aus ihm heraus. Er kündigt sie seltsam an. „Hier ein wundervolles Stück von Rodgers & Hart in 4/5“, oder: „Gershwin passt immer, jedenfalls für mich.“ Und es klingt wie eine Entschuldigung, wenn er sagt, die Stücke seien eigentlich nicht für Klavier geschrieben und man sollte sich doch das Klavier als entsprechendes Instrument denken, als Gitarre zum Beispiel. Er tastet sich vorsichtig voran, folgt auf dem Klavier nicht der gesungenen Melodie, bricht sie auf. Die langsam und eindringlich gesungenen Texte handeln von der Liebe, vom Schmerz, vom Verlassensein. Er erzählt diese Geschichten beeindruckend ruhig und eindringlich.

Besonders schön ist seine Version von Nick Drakes „River Man“ und der Big Bill Broonzy Blues „Brother, Can You Spare A Dime“ über den obdachlosen Bettler Al, der damals mit zu denen gehörte, die Eisenbahnschienen quer durch Amerika legten. Schwarze Gefangene waren es und die meisten starben bei den Sprengungen der Hindernisse, die den Schienen im Weg waren. Beys Unsicherheit und sein natürlicher Umgang damit schaffen eine Intensität, die ihn schließlich fast drei Stunden spielen lässt. Es ist ein seltsames und besonderes Konzert vor wenig Publikum, immer noch ist Andy Bey ein Geheimtip und sein sanfter, zärtlicher und trotz der tiefen und kraftvollen Stimme zerbrechlich wirkender Gesang.

In der Januarausgabe der gelisteten Autoren und Musiker bei Zweitausendeins steht Bey zwischen Boys und Beyoncé. Direkt davor eine ganzseitige Hymne an den Sänger und das 1995 erschienene Album, das den jetzt 64-jährigen nach mehr als 20-jähriger Pause und Lebenskrise wieder zurückholte: „Ballads, Blues and Bey“. Die Tapes wurden von sämtlichen großen US-Plattenfirmen abgelehnt, zu riskant, zu eigenwillig und sperrig. Die tiefe Baritonstimme, die betont langsame Interpretation der Balladen des Great American Songbook, nur sparsam akzentuiert von weit auseinander liegenden Akkorden.

Die zwei nachfolgenden Alben schienen eine Triologie zu bilden, doch jetzt ist noch ein viertes dazu gekommen. „Chillin’ With Bey“, ein Soloalbum, von dem er an diesem Abend nur einige Stücke spielt. Als ob die Spieldauer einer CD zu limitiert ist für einen, in dem hunderte von Songs wohnen. Ein weiteres Album, „American Song“, wird im Februar in New York erscheinen, bei Savoy. Jetzt endlich wollte ihn doch eine der großen Plattenfirmen. Doch der Vertrag läuft erst mal nur für diese eine CD. MAXI SICKERT