Das Wunder von Bam

AUS BAM FREDRIK BARKENHAMMAR

„Ja, meine Liebe“, sagt die Frau mit den schneeweißen Haaren freundlich. Masumeh Malek von der Hilfsorganisation Roter Halbmond strahlt begeistert zurück. Die 97-jährige Shahrbanoo Mazandarni ist die beliebteste Patientin im Feldkrankenhaus in der iranischen Stadt Bam. Immer wieder finden die Helfer Zeit, ihr Tee oder Süßigkeiten zu bringen. Die anwesenden Mediziner aus Deutschland, Finnland und Norwegen verstehen zwar ohne Dolmetscher kein Wort. Aber das spielt keine Rolle. Wenn von „Granny“ die Rede ist, huscht ein Lächeln über ihre übermüdeten Gesichter.

Es ist ein Wunder, dass Shahrbanoo Mazandarni noch lebt. Mehr als acht Tage lang hat sie im Erdbebengebiet unter den Trümmern ihres Hauses gelegen. „Unmöglich“, ist der erste Gedanke vieler Helfer, als die Rettungskräfte per Mobiltelefon durchgeben, dass die neue Patientin in Kürze eintreffen wird. Doch die Notaufnahme des Feldkrankenhauses, das gerade erst aufgebaut worden ist, macht sich bereit. Vor den Zelten gibt es Gedränge. Alle wollen wissen: Acht Tage Überleben ohne Wasser und Lebensmittel – wie geht das?

Dann wird Mazandarni auf einer Liege hineingetragen. Schon am nächsten Tag ist sie ansprechbar. Ihr Haus ist am frühen Morgen des 26. Dezember zusammengestürzt. Als die Erde bebt, liegt sie im Bett. Gerade haben ihr Verwandte etwas zu essen und zu trinken gebracht. An das Erdbeben selbst kann sich Mazandarni nicht mehr erinnern, sie verliert schnell das Bewusstsein. Als sie aufwacht, liegt sie immer noch in ihrem Bett. Nur das aus Lehm gebaute Haus, das es umgeben hatte, gibt es nicht mehr. Zwei Wände haben sich über ihr verkeilt und bilden einen kleinen Hohlraum. Sie ist verschüttet, Entkommen ist unmöglich.

Aber Mazandarni hat eine warme Decke, Wasser, etwas Essen. Acht Tage überlebt sie im Schutt. Die Zeit vertreibt sie sich damit, Verse aus dem Koran zu rezitieren. Endlich nehmen Spürhunde ihre Witterung auf. Mazandarni wird geborgen, drei Stunden lang dauert es, bis die Steinbrocken beiseite geräumt sind. Sie ist dehydriert, ihre Gelenke sind versteift. Aber sie ist am Leben. „Sie hat nicht einen Kratzer im Gesicht“, stellt Halbmond-Sprecherin Malek später verblüfft fest.

Zwei Tage später bringt Mohammed Saeedi seinen zweijährigen Sohn Baback in das Behelfskrankenhaus, in dem rund 250 Patienten betreut werden. Mohammed wohnte mit seiner Frau Zarah und dem kleinen Jungen im Azidi-Distrikt von Bam, der zu 90 Prozent zerstört ist. 300 Verwandte von Mohammed sind durch das Beben umgekommen. Er hält einen Stapel Papiere hoch. Es sind ärztliche Atteste, Belege über die medizinischen Behandlungen des kleinen Baback in den letzten Jahren. Sie haben einen nicht geringen Teil von Mohammeds kleinem Gehalt als Bäcker gekostet. Verdacht auf Leukämie, hat der behandelnde Arzt auf ihnen vermerkt.

Baback ist sehr schwach. Nach einer Woche in einem kalten Zelt auf den Straßen Bams hat er sich erkältet. Sein Knochenmark soll in der Hauptstadt Teheran untersucht werden. Helfer aus dem Ausland rufen sogar in ihren eigenen Ländern an und fragen, ob der Kleine in ihrer Heimat behandelt werden kann. Sie haben selber kleine Kinder. Doch es ist alles umsonst. Überraschend stirbt der Junge nach wenigen Stunden im Krankenhaus. Baback fällt den Folgen der Obdachlosigkeit und der unzureichenden medizinischen Versorgung zum Opfer.

Jeder zweite Arzt in der iranischen Stadt ist bei dem Erdbeben umgekommen. Die beiden örtlichen Krankenhäuser sind vollständig zerstört. 97.000 Einwohner zählte die Stadt vor ihrer Verwüstung. Wenn man die Nachbardörfer dazunimmt, waren 240.000 Menschen von den beiden Krankenhäusern abhängig. Viele Nothospitale, die unmittelbar nach der Katastrophe errichtet wurden, sind inzwischen schon wieder abgebaut worden. Die ersten Hilfsorganisationen sind nach Hause zurückgekehrt. Zu gering ist die Chance, nach mehr als drei Tagen noch Überlebende zu finden, sagen die Experten.

Das Krankenhaus, in dem die 97-jährige Shahrbanoo Mazandarni und der zweijährige Baback Saeedi gebracht wurden, ist jetzt das Hauptkrankenhaus in Bam. Es wird gemeinsam vom Norwegischen, vom Finnischen und vom Deutschen Roten Kreuz betrieben. Am Abend des vierten Tages nach dem Erdbeben kamen die Helfer in den ersten klapprigen Lastwagen und dem mitgebrachten Toyota Landcruiser an und luden die Kisten auf einer Fläche ab, die so groß wie zwei Fußballfelder ist. Ein transportables Kreiskrankenhaus, komplett mit 2 Operationssälen und 200 Betten, wird aufgebaut. In der ersten Nacht errichten die Helfer Wohnzelte und werfen die Stromgeneratoren an. Schon am dritten Tag kommen die ersten Patienten. Ein Team aus Deutschland, Österreich und Schweden kümmert sich um die Wasserversorgung. 250.000 Menschen können hier vier Monate lang medizinisch versorgt werden.

Alles ist standardisiert, von den 300 Quadratmeter großen Lagerzelten bis hin zur Kopfschmerztablette. So können finnische Ärzte mit dem deutschen Material arbeiten, während deutsche Ingenieure die Frischwasseranlage aufbauen, die das Schwedische Rote Kreuz mitgebracht hat. Die Packlisten, die an den großen Kisten befestigt sind, sind in sechs Sprachen verfasst.

„Die Stärke der Rotkreuzbewegung ist das internationale Netzwerk“, sagt Richard Munz. Für Munz ist dies schon sein zwanzigster Auslandseinsatz seit 1992. Der 50-Jährige aus Marburg leitet die Mission des Roten Kreuzes. 99 Helfer der Organisation befinden sich in diesen Tagen in der Trümmerwüste im Süden des Iran. Der Einsatz kostet Munz auch viel diplomatisches Geschick. Die Experten und das Material mögen aus dem Ausland kommen, aber die oberste Leitung übernimmt der Iranische Rote Halbmond. „Die Iraner kennen die lokalen Verhältnisse am besten, daran müssen wir uns halten“, sagt Munz. „Wenn wir hier ein Krankenhaus nach deutschem Vorbild aufbauen, dann kommen Menschen aus Teheran hierher, um ein Ultraschallbild von ihrem Baby zu sehen.“

Die Helfer wollen vor Ort bleiben, bis die Gesundheitsversorgung von Bam wiederaufgebaut ist. Mehr als 30.000 Menschen sind aus den Trümmern geborgen und beerdigt worden. 80.000 Überlebende sind obdachlos. Manche Ecken von Bam sind leer und verlassen wie eine Geisterstadt; in manchen Straßen tobt schon wieder das Leben. Für die Flüchtlinge sind Unterkünfte in Lagern errichtet worden. Doch viele Menschen bleiben lieber in den dünnen Notzelten vor ihren Häusern – aus Angst, ihren letzten Besitz zu verlieren. „Lager sind eigentlich besser“, sagt Richard Munz. „Da trinken die Menschen sauberes Wasser, das von uns zubereitet und gereinigt ist.“ Aber man könne niemanden zwingen, in ein Flüchtlingslager zu gehen.

Auf einem Fußballfeld, umgeben von Trümmern und eingerahmt von zwei schiefen Fußballtoren, hat ein anderer Arzt aus Deutschland seine Praxis aufgebaut. Die Behandlungsräume von Joachim Gardemann aus Münster bestehen aus sechs Zelten. Gardemann und seine neun iranischen Kollegen betreuen zwischen 10 und 50 Patienten am Tag. Sie kämpfen vor allem gegen Lungenentzündung, Bronchitis oder Kinderkrankheiten wie Mumps.

Jedes Zelt ist in der Länge geteilt – in Männer- und Frauensektionen. Gardemann hat sich ausführlich über die Verhaltensregeln im medizinischen Alltag informiert. „Eine ärztliche Untersuchung von Frauen durch Männer ist eigentlich ganz unproblematisch möglich“, sagt er. Nur Tätigkeiten mit ganz engem Körperkontakt sind ausschließlich weiblichem medizinischem Personal vorbehalten. Dazu gehören allerdings Verbandwechsel, Injektionen und natürlich Untersuchungen im gynäkologischen Bereich.

Über jeden Patienten führen die Mediziner eine genaue Statistik. Vor allem der Zusammenhang zwischen dem Wohnort und den Symptomen der Patienten liefert wichtige Informationen. „Wenn wir auf einmal viele Fälle von wässrigem Durchfall bekommen und diese Patienten haben ihre Zelte alle im gleichen Stadtgebiet, dann können wir davon ausgehen, dass es dort schlechtes Wasser gibt.“ Dann, so Gardemann, müsse die Gegend schnell mit sauberem Wasser versorgt werden. „Sonst drohen Epidemien.“ Vor allem Malaria und Hirnhautentzündung breiten sich in den Trümmern von Bam aus. Mehr als zwei Wochen nach dem verheerenden Unglück stehen die Mediziner vor der nächsten Herausforderung.

Der Autor ist einer von 15 Delegierten des Deutschen Roten Kreuzes in Bam