Nur sechsundneunzig Stunden

Die Münchner Debatte um Gunther von Hagens’ Anatomieausstellung wirft eine interessante Frage auf

Die anatomische Innenansicht des Menschen war bislang ausschließliches Privileg der Medizin; so wie der Umgang mit dem toten Körper eines Menschen das von Gemeindeverwaltungen und Kirchen. So nimmt es nicht wunder, dass vehementer Widerstand gegen die geplante Ausstellung „Körperwelten“ des Heidelberger Anatomieprofessors Gunther von Hagens in München in erster Linie aus Kreisen konservativer Mediziner, Soutanenträger und Kreisverwaltungsreferenten kam.

Von Hagens ist Erfinder einer Technik, die es erlaubt, einzelne Organe und Gewebeteile Verstorbener, aber auch ganze Körper, durch Austausch des Gewebewassers und Gewebefettes mit einer Kunststofflösung zu „plastinieren“, wobei die jeweiligen Gewebestrukturen naturgetreu und vollständig erhalten bleiben. Die Ausstellung lässt den Besucher wie in einem dreidimensionalen Lehrbuch die Anatomie des menschlichen Körpers erleben.

Von Hagens versteht seine „Körperwelten“ als wesentlichen Beitrag zu Gesundheitsaufklärung und Volksbildung: „Die Demokratisierung von Anatomie hat begonnen.“ Seit 1997 wurde die Ausstellung weltweit – unter anderem in Mannheim, Oberhausen, Berlin, Wien und Basel – von mehr als elf Millionen Menschen besucht. Nur in der bayerischen Landeshauptstadt wurden die „Körperwelten“ aufgrund massiven Drucks einer eingefleischten Allianz aus Kirche und CSU vom rot-grünen Stadtrat verboten.

Haupteinwand war die Sorge um die „Menschenwürde“: Die Plastinate verstießen sowohl gegen die Würde der Verstorbenen – ungeachtet des Umstandes, dass diese zu Lebzeiten ihren Körper freiwillig und ohne Entgelt für die Plastination zur Verfügung gestellt hatten –, als auch gegen das „sittliche Empfinden der Allgemeinheit“. Beides sei durch das Grundgesetz geschützt. Zudem verstoße die Ausstellung gegen das bayerische Bestattungsgesetz, demzufolge Leichen binnen 96 Stunden bestattet werden müssen, es sei denn, sie dienten wissenschaftlichen Zwecken. In den Präparaten von Hagens’ indes sieht das Münchner Kreisverwaltungsreferat „keinerlei Wissenschaft“. Auch in der öffentlichen Debatte war kaum von anderem die Rede als von „Gruselkabinett“ und „perversem Horrorspektakel“, von Hagens wurde in der örtlichen Presse nahezu durchgängig als „Leichenfledderer“ und durchgeknallter „Dr.Frankenstein“ bezeichnet. Am lautesten forderten Vertreter der Amtskirchen ein Verbot der Ausstellung. Weihbischof Engelbert Siebler: „Gott hat den Leib des Menschen erschaffen. Deshalb kann dieser Leib auch im Tod nicht der Unterhaltung und der Vermarktung für Showzwecke zur Verfügung stehen.“

Stadtrat und Kreisverwaltungsreferat zogen sich letztlich ganz auf das Bestattungsgesetz zurück: Leichen- und Leichenteile müssen umgehend bestattet werden. Punktum. Ob man denn dann nicht auch die reich verzierten Skelette oder Skelettteile all der Heiligen und Märtyrer umgehend bestatten müsse, die gerade in Bayern in zahllosen Barockkirchen zu besichtigen sind – in München beispielsweise das komplette Gebein der Heiligen Munditia oder die abgeschlagenen Köpfe der Heiligen Cosmas und Damian –, wusste man weder in der Verwaltungsbehörde noch im Ordinariat zu beantworten.

Gunther von Hagens reichte Klage auf einstweiligen Rechtsschutz ein, sodass seine Präparate in München nicht beschlagnahmt, beschädigt oder gar zwangsbestattet werden dürfen. Letzteres ohnehin eine witzige Idee: Die Plastinate sind unverrottbar, dürfen also laut Bestattungsgesetz gar nicht bestattet werden. Einer zweiten Klage gegen das Verbot selbst wurde vom bayerischen Verwaltungsgerichtshof in letzter Minute stattgegeben: Die Ausstellung konnte wie geplant am letzten Wochenende eröffnet werden.

COLIN GOLDNER