Endlich foltern!

Helgoland – das schreckliche Geheimnis einer Insel im diesigen Januar (Teil 1)

BREMERHAVEN taz ■ Grauer Himmel über der Nordsee. Diesig. Der Wind treibt feinen, eisigen Bindfadenregen über den Deich. Enno Hinrichs zieht die Prinz-Heinrich-Mütze tiefer in sein Gesicht, bis die Augen kaum noch zu sehen sind. Aber unter der Mütze hindurch starrt er auf den Horizont. Dahinten, Richtung England, muss Helgoland liegen, seine Heimat. Jedenfalls war sie das, bis vor drei Tagen.

„Früher“, sagt er, „ist hier jeden Tag eine Fähre losgegangen. Butterfahrten. Bei uns konnte man ja billig einkaufen. Zollfrei. Schnaps und Zigaretten. Vor allem Schnaps. Die Leute kamen nüchtern an und sind besoffen zurück. Haben den ganzen Tag gekotzt. Auf der Hinfahrt wegen der Wellen, auf der Insel wegen dem Schnaps, auf der Rückfahrt wegen beidem. Das war nicht schön, hat aber gutes Geld gebracht. Naja.“

Hinrichs zieht an seiner Pfeife und schiebt sie von einem Mundwinkel in den anderen. Pustet den Rauch aus und sieht ihm nach, wie der über das flache Land zieht, vorbei an adretten roten Klinkerhäusern. „Das mit dem Einkaufen hörte dann ja auf“, erzählt er weiter, mit fast tonloser Stimme, „wegen Brüssel. Plötzlich war die Insel leer. Nix mehr los. Die paar Touristen wollten nur noch Vögel gucken. Haben kein Geld mehr dagelassen. So fing das Unglück an, würde ich mal sagen.“

Hinter dem Deich stehen Hollywoodschaukeln in den Gärten der Häuser. Sie sind in blaue Plastikplanen eingeschlagen. Die Planen knattern im Wind. Hinrichs scheint es nicht zu hören.

Sie hätten damals am Ufer gestanden, auf die See geblickt, Ausschau nach Investoren gehalten. Ihnen sei alles egal gewesen: Atomkraftwerke, Chemiefabriken, Endlager – Hauptsache, es gibt Arbeit. Von irgendwas muss der Mensch ja leben. Und Heringe sind ja nicht mehr. Aber was dann kam, damit hätte wirklich keiner gerechnet. Ehrlich nicht.

„Klar“, sagt Hinrichs, „Gerede gab es. Seit Sommer. Schiffe, die nachts anlegen. Komische Geräusche. Der elektrische Zaun um den alten Nord-Ost-Park. Typen in grauer Uniform. Die haben nicht viel gequatscht. Die hatten Schäferhunde. Maschinenpistolen. Und dann die Schreie, nachts, da konnte man ja nicht schlafen, wenn der Wind falsch stand. Klang zwar nicht nach Mensch, aber trotzdem.“ Seit drei Tagen lebt er in einem Hotel. „Kann man nicht klagen, zahlt der Bund“, sagt er, „ist aber nicht Helgoland.“

Hinrichs musste die Insel verlassen, wie die anderen Bewohner auch. Vier Stunden Zeit hatte er, um seine Sachen zu packen. Ob er seine Heimat je wieder sieht, steht in den Sternen. Betreten kann man Helgoland nur mit Sondergenehmigung des Innenministeriums. Die Insel gehört jetzt dem „Jörg-Schönbohm-Institut für physische Pädagogik“ (JSI).

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Hans Grünhagen blickt aus dem Fenster seines Büros im dritten Stock der Nordsee-Zeitung. Damals, Frühjahr 2003, hatte er das alles nur für einen müden Scherz gehalten. Der Versuch eines Politikers, in die Medien zu kommen. Hauptsache Titelblatt. „Schönbohm“, sagt Grünhagen, „war eigentlich immer so. Große Klappe und nichts dahinter. Ein General eben.“

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Flugplatz Bremerhaven. Neben einem Hangar das Büro von Feddersen Aircraft. Die Firma besteht aus Fred Feddersen, einem Mechaniker, einem Telefon und einer Dornier X-10 – eine kleine Propellermaschine mit Platz für einen Piloten, zwei Passagiere und etwas Gepäck. Feddersen: „Ich bin oft nach Helgoland rüber. Meistens hatte ich Urlauber, die ihre Fähre verpasst haben, das war zuletzt aber nicht mehr viel. Sonst den Arzt oder Medikamente. Oder wenn sie drüben einen Schwerkranken hatten. Dauert eine halbe Stunde, der Flug, und bei Sturm ist das kein Zuckerschlecken.“

Vor vier Tagen hat Feddersen die Insel zum letzten Mal angeflogen. Er erinnert sich: „Grünhagen hat mich angehauen. Ich bin ja schon oft für ihn geflogen. Wir kennen uns von früher, vom Fußballclub.“ Feddersen kramt ein Foto von Helgoland aus der Schublade. „Hier“, sagt er und zeigt auf die Spitze der Insel, „die lange Anna. Da haben sie die Affen runtergeworfen. Lebend. Vom Felsen auf die Klippen. Habe ich mit eigenen Augen gesehen. Und das hier ist der Nordhafen. Da an der Mole haben die Schiffe gelegen. Und in den Schiffen waren Käfige. Paviane. In jedem Käfig fünfzig Stück. Ich hab’ die Maschine runtergezogen. Wir wollten näher ran. Das mit den Schüssen habe ich zuerst gar nicht begriffen. Ich dachte nur: Was ist das? Komische Geräusche! Das hat lange gedauert, bis ich klar hatte, sie schießen auf uns. Das habe ich erst richtig begriffen, als ich das Loch im Seitenfenster hatte.“

Feddersen zieht die Plane von der Maschine. Er zeigt auf die Einschusslöcher – vier nebeneinander an den Flügeln, eins im Seitenfenster. „Sie wollten uns umbringen“, sagt Feddersen. „Ein Zentimeter nach rechts, und sie hätten den Tank getroffen. Dann würden wir hier nicht mehr reden.“ VOLKER HEISE

Fortsetzung morgen