Geburt in der Beobachtungszelle

Strafvollzug „darf kein Luxusurlaub sein“ – mit dieser Prämisse hat der Hamburger Innensenator Roger Kusch zwei Jahre den „weitgehend drogenfreien Strafvollzug“ vorangetrieben, dem auch die Substitution zum Opfer fiel. Für Drogenabhängige ist das lebensgefährlich. 12 Prozent der in Haft abstinenten Drogenabhängigen sterben laut einer Studie kurz nach Freilassung an entwöhnungsbedingter Überdosierung

AUS HAMBURG DORO WIESE

Am 2. April 2003 gebar Melanie M.* ein Kind. In der Beobachtungszelle des Hamburger Untersuchungsgefängnisses. Die Beamten hatten ihre Wehen offenkundig für Begleiterscheinungen von Drogenkonsum gehalten. Darum wurde Melanie M. (20) laut Aussage des Hamburger Senats erst nach der Geburt in das angrenzende Marienkrankenhaus verfrachtet.

So erfuhr die Drogenabhängige, die wegen eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz inhaftiert worden war, einen Hauch von jenem Paradies, das Hamburgs Justizsenator Roger Kusch (CDU) unmittelbar nach Amtsantritt laut Welt am Sonntag in den Hamburger Strafvollzugsanstalten ausgemacht haben wollte. Dem Hamburger Abendblatt erläuterte er im selben Atemzug sein Konzept für den Strafvollzug, der „kein Luxusurlaub sein darf“ – und das darin besteht, „Haft (…) wieder als Haft spürbar“ zu machen. „Strafe muss (…) verständlich bleiben.“ Danach stellte er öffentlich Überlegungen an, ob Arbeitslohn und Taschengeld bei Gefangenen gekürzt und die Besuche reduziert werden sollten.

Kusch ist Jurist. In seiner Doktorarbeit hat er sich ausführlich mit den juristischen Konsequenzen des Vollrausches beschäftigt. Zum Einstand als Senator ließ er vor knapp zwei Jahren die Spritzentauschautomaten in Hamburger Gefängnissen abbauen. Es blieb nicht bei dieser Maßnahme. Denn die nun gescheiterte Regierungskoalition aus CDU, Schill-Partei und FDP strebte einen „weitgehend drogenfreien Strafvollzug“ an, dem auch die dortige Substitution durch Methadon, Polamidon oder ähnliche Stoffe zum Opfer fiel – außer bei schweren Krankheiten wie Aids oder Krebs sowie bei Kurzstrafen. So wurden seit dem Sommer 2002 bei 270 Fällen die Substitution reduziert oder eingestellt.

Dabei unterstreichen sämtliche nationale und internationale Studien die Wichtigkeit von Substitution, wie die Auswertung von Poehlke/Schlüter/Follmann von 1997 zeigt. Substitution kann eine stabilisierende, überlebenssichernde Maßnahme sein, weil sie die Sucht nach illegalisierten Drogen und den damit einhergehenden Beschaffungsdruck herabsetzt. Kriminalität und Gewalt durch Drogenabhängigkeit können so vermieden werden, ebenso gesundheitliche Risiken. Hinzu kommt, dass die zugrunde liegende Vorstellung einer „Abstinenz“ qua Willenskraft, die der aktuelle Senat durch ein ausstehendes „Trainingsprogramm“ unterstützen will, nicht nur an den realen Bedingungen vorbeigeht, sondern zudem das Todesrisiko von drogenabhängigen Gefangenen nach der Entlassung erheblich steigert.

Zwei Spritzen für 100 Leute

Nach einer Studie des Hamburger Instituts für Rechtsmedizin starben von 1.213 polizeilich registrierten Drogentoten rund zwölf Prozent innerhalb der ersten zehn Tage nach Haftentlassung aufgrund einer entwöhnungsbedingten Überdosierung – eine Zahl, die auch dem Senat bekannt ist (vgl. Parlamentsdrucksache DS 17/2289). Auch kann die derzeitige Politik bislang keine erfolgversprechenden Zahlen hinsichtlich des Drogenkonsums in Hamburger Knästen vorweisen: Trotz des propagierten drogenfreien Gefängnisses geht der amtierende Senat (DS 17/2491) von den gleichen Zahlen aus, die 1998 als Schätzung erhoben wurden und ein Drittel der Strafgefangenen als suchtmittelabhängig ausweisen.

Diese Zahlen bestätigen auch ehemalige Drogenkonsumenten, die in dieser Legislaturperiode im Knast saßen. „In Fuhlsbüttel, Anstalt II, waren von den circa 500 Gefangenen 200 drogenabhängig, ungefähr 100 Leute haben gespritzt“, berichtet Uwe P. (34). Er war von von 2001 bis 2003 wegen Beschaffungskriminalität inhaftiert.

„Ich habe mitgekriegt, dass für 100 Leute teilweise nur zwei Spritzen im Haus waren. Und dann ging es wieder damit los, dass Spritzen aus Kugelschreibern gebaut wurden und so. Es waren Geräte unterwegs, da haben sogar Beamte der Sicherheitsgruppe gesagt: ‚Mein Gott, das stechen sich die Leute in den Körper?‘ “

Dass Abhängige im Knast von ihrer Sucht loskommen, wird von Drogenkonsumenten verneint. „Die Leute verkaufen alles, ihr Taschengeld, oder Geld, das sie sonst wie zur Verfügung haben, sie machen mit sämtlichen Sachen Geschäfte, haben Verträge draußen, um an die Drogen ranzukommen“, sagt Steffen R. (31), der mittlerweile eine therapeutische Einrichtung aufsucht und drogenfrei lebt. Die Sucht mache abhängige Menschen erpressbar. Das Deponieren von Drogen in der Zelle oder im eigenen Körper, Prostitution, Prügelstrafe bei Nichtbezahlung, Androhung von Gewalt gegenüber Familienmitgliedern gehören zur Tagesordnung.

Der Ausstieg ist für Suchtkranke schwer, insbesondere weil eine ausreichende psychologische Begleitung nach Meinung ehemaliger KonsumentInnen nicht gewährleistet ist. „In Fuhlsbüttel gibt es keine interne Drogenberatung. Wenn man einen Antrag stellt, bekommt man bei Externen einen Termin in etwa sechs Wochen. Dann hat man wirklich keine Möglichkeit, wenn man merkt, ich hänge hier fest, ich bin hier mitten drin in den Drogengeschäften. Man kann dann nicht zum Drogenberater gehen und sich Alternativen geben lassen“, sagt Uwe P.

89 Stunden sind die externen Drogenberatungsstellen für Gefangene der Hamburger Strafvollzugsanstalten erreichbar – bei einem Mittelwert von 1.033 geschätzten Drogenabhängigen sind das fünf Minuten Beratungszeit in der Woche. Für Uwe P. wird die Drogenpolitik in den Hamburger Knästen nur den Menschen gerecht, die schwere Krankheiten haben: „Die haben die Möglichkeit, auch ohne Drogen auszukommen, da sie substituiert werden.“

Wird Opiatabhängigen unmittelbar ihr Suchtmittel vorenthalten, droht ein so genannter kalter Entzug. Das kann gesundheitliche Schäden wie Schock, Kreislaufversagen und sogar Koma hervorrufen. Deshalb sollten Opiate, aber auch Substitutionsmittel langsam „ausgeschlichen“ werden. Doch insbesondere bei Eintritt in die Untersuchungshaft kommt es nach Berichten Drogenabhängiger zu Versorgungsengpässen. „Ich war letztes Jahr in U-Haft, und obwohl ich draußen substituiert wurde, musste ich lange, lange auf mein Polamidon warten“, sagt Ricardo S.

Bei Steffen R. sei es ähnlich gewesen: „Wenn du Pech hast, ist es Freitag, und dann darfst du wahrscheinlich bis Montag warten“, sagt er.

Wer draußen nicht substituiert wird, kann sich auf Wartezeiten gefasst machen. Bea L. war fünf Tage in Untersuchungshaft. Sie hatte eine Geldstrafe für Schwarzfahren nicht bezahlt. „Ich habe dort tatsächlich zwei Tage einen konkreten Kalten gemacht. Dann kam ’ne Ärztin, und ich musste irgendwelche Zettel unterschreiben, damit ich endlich Polamidon bekomme oder irgendwas. Da war das Schlimmste aber schon vorbei. Ich bin echt durchgedreht auf der Beobachtungsstation. Ich habe angefangen, mein Bett zu stemmen, man konnte nicht schlafen, das Einzige, was ich gekriegt hab, war ’ne Illustrierte zum Lesen.“

Für die Drogenabhängigen ist die Botschaft einer solchen Politik klar: „Man fühlt sich wie ein Mensch zweiter Klasse!“, sagt Ricardo S. Gründe für Drogenkonsum seien uninteressant. „Weshalb du süchtig bist, fragt dich so oder so keine Sau!“ meint Bea. L.

Dabei besagt eine aktuelle Hamburger Studie der Soziologin Heike Zurhold, dass 60 Prozent aller weiblichen Drogenabhängigen körperliche oder sexuelle Gewalterfahrungen gemacht haben. „Drogengebrauch ist ein Ausdruck vielfältiger Problemlagen“ sagt Anke Mohnert, Leiterin der Sozialeinrichtung Sperrgebiet auf St. Georg.

Sie kennt die eingangs erwähnte Melanie M. und weist darauf hin, dass die Erzählungen der jungen Frau über die Geburt von Antworten des Senats auf die kleine Anfrage abweichen, die von der Grünen-Abgeordneten Dorothee Freudenberg eingereicht worden war.

Doch selbst wenn die Mutter nach Darstellung des Senats nur „zwei Stunden und vier Minuten“ auf der Beobachtungsstation des Untersuchungsgefängnisses verbracht hat, ist schwer erklärbar, warum eine sich offenkundig in Schmerzen befindliche Person nicht in die nahe gelegene Klinik eingewiesen wurde. Ehemalige DrogenkonsumentInnen wundert das allerdings nicht: „Die Menschenrechte? Das ist lustig im Gefängnis. Aber wenn schlechtes Wetter ist, kommste nicht raus: Der Gefangene ist vor Krankheit durch Wettereinfluss zu schützen.“ Als Uwe P. das erzählt, muss er lachen.

* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert