Ein Geständnis und viele offene Fragen

In Schweden beginnt der Prozess im Mordfall Anna Lindh. Das Motiv des Angeklagten ist völlig unklar

STOCKHOLM taz ■ Im heute beginnenden Prozess wegen der Ermordung der schwedischen Außenministerin Anna Lindh muss kein Täter mehr überführt werden. Im Mittelpunkt wird die Frage stehen, ob es sich um Mord oder Totschlag handelt. Außerdem geht es darum, ob der geständige Mijailo Mijailovic im juristischen Sinne schuldfähig ist. „Irgendetwas war in meinem Kopf, das befahl, ich solle sie angreifen“, hat er der Polizei in Stockholm zu Protokoll gegeben. Ein Motiv will er nicht gehabt haben, als er am 10. September 2003 auf Anna Lindh einstach: „Eine innere Stimme. Jesus.“

Was auch immer die Wahrheit ist, eine bessere Verteidigungsstrategie ist schwer vorstellbar. Denn die Beweiskette ist erdrückend. Blutspuren, die DNA-Analyse, die Tatwaffe – alles weist auf den Angeklagten hin.

Ein begabter Junge, ein Einserschüler in Mathematik, war dieser Mijailo. „Unauffällig“ bis zu einem Freitag im November 1996. Das Alkoholproblem seines Vaters war im Laufe der Jahre immer schlimmer geworden. Und an diesem zwanzigsten Geburtstag seiner Schwester rastete er völlig aus. Der 17-Jährige nahm sich ein Küchenmesser und stach mehrfach auf den Vater ein. „Fast besinnungslos“, urteilt später das Gericht. Mijailo saß zum ersten Mal in einem Polizeiverhör. „Es wundert mich eher, dass es nicht früher passiert ist“, gibt er da zu Protokoll. Es habe sich ergeben, dass er „aufgrund der familiären Verhältnisse viele Jahre unter einem starken psychischen Druck stand“, wird als mildernder Umstand im Urteil vermerkt, das ihm gemeinnützige Arbeit auferlegt. Gleichzeitig wird angeordnet, dass er sich in psychiatrische Behandlung begibt.

Zwei Jahre nach der ersten Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung steht er wegen Erpressung eines Restaurantbesitzers vor Gericht. Bei seiner Verhaftung hatte er eine geladene Pistole in der Tasche. Bekannte aus dieser Zeit berichten von seiner offensichtlichen Bewunderung für eine berüchtigte „Jugo-Gang“, auf deren Konto in dieser Zeit verschiedene Gewalttaten in Stockholm gehen. 2001 folgt eine Verurteilung wegen Nötigung. Eine junge Frau hatte ihn abblitzen lassen. Daraufhin lauerte er ihr auf, bedrohte und terrorisierte sie mit Anrufen. Auf die Ankündigung der Familie, man werde ihn anzeigen, reagiert er mit: „Da passiert mir gar nichts. Ich bin doch psychisch krank.“ Ein seit Jahren oft wiederkehrender Satz, wie sich nun viele Menschen aus seinem Bekanntenkreis erinnern.

Am Montag hatte die schwedische Staatsanwaltschaft ihre 1.100-seitige Mordanklage veröffentlicht. Einer Verurteilung zu lebenslanger Haft könnte Mijailovic wohl nur entgehen, wenn er das Gericht von fehlender Schuldfähigkeit überzeugt. Doch bei allen seinen bisherigen Kontakten mit Justiz und psychiatrischer Krankenversorgung war er nie als so schwer psychisch krank beurteilt worden. Mindestens eine Viertelstunde lang soll er Anna Lindh beschattet haben, ehe er zustach, beidhändig und mit aller Kraft. Mindestens zehnmal. Angeblich mit den Worten: „Hier bekommst du, was du verdienst.“ Und nach der Tat beseitigte er mit einigem Geschick verräterische Spuren. Eine spontane Wahnsinnstat, wie die Verteidigung behauptet? „Bei mehreren Messerstichen schwindet diese Alternative in steigendem Grad“, urteilt der Stockholmer Strafrechtsprofessor Christian Diesen. Und: „Eine solche Tat erfordert fast immer eine Verbindung zwischen Täter und Opfer. Sei es Provokation oder Relation.“

Die Anklageschrift verschwendet kaum Gedanken auf die Suche nach einem möglichen politischen Motiv, obwohl dies bei einem Opfer wie der Außenministerin nahe liegt. Das Bombardement Belgrads im Kosovokrieg, gerechtfertigt auch von Schweden und Anna Lindh, soll Mijailovic „ganz wahnsinnig gemacht“ haben? Dies berichten Personen aus seinem Bekanntenkreis. Sie gehören aber nicht zu den drei Zeugen – eine Tatzeugin, zwei Sachverständige –, mit denen sich die Staatsanwaltschaft offenbar begnügen will. Raum für Motivsuche scheint es in dem auf nur drei Tage angesetzten Verfahren nicht zu geben. REINHARD WOLFF