Mendels Erben

Es gibt tausende Biohöfe in Deutschland, aber nur wenige Züchter von Saatgut, die sich von der industriellen Hybridzucht absetzen. Dietrich Bauer ist so einer

von EVA KELLER

Die Feldmäuse haben gleich gemerkt, dass „Rodelika“ etwas Besonderes ist. Sie nagten die wenigen Möhren mit dem kräftig süßen Aroma an – noch bevor Dietrich Bauer seine Neuzüchtung selbst verkosten konnte. Neunzehn Jahre lang hat der Landwirt aus dem hessischen Bad Vilbel gesät, Möhren geerntet, die Besten ausgewählt und im nächsten Jahr wieder angebaut, bis ihn endlich eine Sorte zufrieden stellte: Rodelika! Glatte Schale, intensives Rot, kräftiges Laub, bruchfest, starkes Wachstum, gute Lager- und Widerstandsfähigkeit – und ein wundervolles Geschmackserlebnis.

Im Unterschied zu Dietrich Bauer setzen die konventionellen Kollegen ganz auf Hybridsorten (siehe Kasten). Sie kreuzen tausendfach Pflanzen aus gezielter Inzucht, und zwar nach Zufallskombinationen, die der Computer ausspuckt. Ziel der Hybridzucht: Steigerung von Wachstum und Ertrag und die Vereinheitlichung des Erbguts. Von „Verarmung des Erbguts“ spricht Bauer. Für ihn ist die Erhaltung der genetischen Vielfalt ein Wert, den es zu verteidigen gilt.

Harmonie in Wachstum und Gestalt ist für den Gemüsezüchter vom Dottenfelder Hof oberstes Zuchtziel. Darin ist sich Bauer mit den Gärtnern, Landwirten, Züchtern und Forschern einig, die sich 1994 im Verein Kultursaat (zur Förderung der biologisch-dynamischen Gemüsesaatzucht) zusammengeschlossen haben. Sie setzen auf eine gute Reifefähigkeit der Pflanze, auf Widerstandskraft und – nicht zuletzt – auf Geschmack. Und das ist für die Landwirtschaft geradezu avantgardistisch.

Möhren, Rotkohl, Weißkohl, Wirsing, Rote Bete: auf Wintergemüse war Dietrich Bauer schon als Landwirt spezialisiert. Erste Experimente mit eigenem Saatgut unternahm er, nachdem er mit fünf Kollegen im umstürzlerischen Jahr 1968 die Betriebsgemeinschaft Dottenfelder Hof gegründet hatte. Die industrielle Hybridzüchtung von Tomaten und Gurken nahm damals gerade ihren Anfang. Eine Gruppe von Biogärtnern und Landwirten wollte dagegenhalten – mit eigenem Saatgut. Doch jede Gemüsesorte, die in Deutschland als Saatgut verkauft wird, braucht den Segen des Bundessortenamts (BSA). Mit Rotkohl startete Bauer seinen ersten Gang zum BSA nach Hannover. Inzwischen wird Saatgut aus seiner Zucht in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz verkauft, der Vertrieb läuft über die Bingenheimer Saatgut AG.

Die Gründung von Kultursaat erlaubte es Bauer, sich stärker auf Forschung und Züchtung zu konzentrieren. Sein Terrain ist der frühere Schweinestall des Dottenfelder Hofs. Hier hat er sich ein Arbeitszimmer eingerichtet. Die Möbel aus Holz, Erinnerungsfotos an der Wand, Äpfel auf dem Schreibtisch, nebenan das Labor. Der Boden ist gekachelt. Statt Schweineboxen stehen hier Trockenschränke, statt Futter lagern nun Kisten voll Saatguttütchen. Und auf den Arbeitstischen drängen sich Petrischalen mit Keimproben und schillernden Sortennamen: Autumn King, Mezzalunga, Topfix, Ariane, Jygewa, Michel, Stella. „Meine Winterarbeit“, sagt Bauer. Zwei Mitarbeiter helfen im Labor und auf dem Feld. Zwei der 150 Hektar des Hofs sind für Forschung und Züchtung reserviert: „Um eine Bestenauslese zu ermöglichen, müssen wir in großem Stil anbauen.“

Selektion und Kreuzung: die schon seit Mendels Erbsenexperimenten bekannten Methoden bilden auch die Grundlage der biodynamischen Züchtung. Eine Selektion ist üblich, wenn der Bestand an Saatgut so groß und vielfältig ist, dass eine Sorte durch gezielte Auslese verbessert werden kann. Andernfalls wird gekreuzt – um eine neue Vielfalt zu erreichen, die wiederum Grundlage für die Selektion ist. Bauer legt Wert auf langjährige Vermehrung und Beobachtung der Pflanzen unter ökologischen Bedingungen. Dabei kommen nur organische Düngemittel zum Einsatz.

Siebzig Tage nach der Aussaat im April gräbt Bauer die ersten Möhren aus. Sie werden gezählt, gewogen, vermessen. Auf großen Bögen werden alle Eigenschaften erfasst: Ist das Laub kräftig und breit oder eher dünn wie Petersilie? Welche Form und Farbe haben die Wurzeln? Sind sie „beinig“ und bruchfest, ist die Schale glatt und leicht zu schälen?

Vor zwölf Jahren hat Bauer die Geschmacksauslese eingeführt. Eine aufwändige Prozedur, die gegen Ende des Winters kurz vor dem Auspflanzen der besten Möhren ansteht. Dann ruft er seine Mitarbeiter im Labor zusammen, wo hunderte Möhren zur Verkostung bereitliegen. Die Tester kappen das untere Drittel, sortieren die Spitzen nach Innenfarbe, Ringbildung, Holzrindenanteil und schneiden eine Scheibe ab. Sie lutschen, kauen und schmatzen, bis sie süße, scharfe, seifige, nussige, bittere oder fade Geschmacksnuancen entdecken, und spucken, wie bei der Weinprobe, die Reste aus. In den Vorschriften des Bundessortenamts heißt es nur lapidar: „Eine Sorte kann geschützt werden, wenn sie unterscheidbar, homogen und beständig ist.“ Die Unterscheidbarkeit wird nach Kriterien wie Größe, Schnittfestigkeit, Aussehen beurteilt. Geschmack spielt keine Rolle.

Wenn ein Züchter das Geschmacksprofil berücksichtigen will, muss er einen Antrag stellen und die Kosten für die Laboruntersuchungen selbst tragen. Daran hat Dietrich Bauer kein Interesse: „Warum sollen wir die Mängel des BSA beseitigen?“ Bauer lächelt über die seltsamen Prioritäten des Amts. Dass ihn die Hannoveraner Behörde für einen „komischen Vogel“ hält, ist ihm durchaus klar, „schließlich vertreten wir extreme Positionen“.

Immerhin konnte er das Sortenamt überzeugen. Bei der Prüfung von Rodelika wollte das BSA nicht hinter den Feldmäusen zurückstehen. Es zog den Geschmack als eigenen Prüfparameter heran und bestätigte ihn amtlich als „besonders gut“ – eine kleine Sensation. Inzwischen hat das Amt 26 von Kultursaat angemeldete Sorten anerkannt, darunter Rotkohl „Rodynda“, Weißkohl „Dottenfelder Dauer“, die Möhren „Rodelika“ und „Robila“, die Tomaten „Quadro“ und „Piroka“, die Gurke „Persika“, dazu Paprika, Sellerie, Kohlrabi, Blattsalat, Bohnen und Spinat. Sieben weitere Sorten durchlaufen zurzeit die Prüfung.

Zufrieden ist Bauer noch lange nicht: Er wünscht sich höhere Erträge für Rodelika, eine bessere Lagerfähigkeit des Rotkohls, und auch die Anfälligkeit mancher Sorten ärgert ihn. Weil sich ein Pilz an den Samen breit gemacht hatte, verfaulten ihm etliche Kohlstrünke. Im konventionellen Anbau hätte man chemische Beizen eingesetzt, Bauer behalf sich mit Heißwasserkuren.

Während die Zahl zugelassener Gemüse kontinuierlich wächst, bleibt die Anerkennung aus den eigenen Reihen weitgehend aus. Auch Biohöfe setzen überwiegend industrielles Saatgut ein, oft genug aus konventioneller Produktion. Das widerspricht zwar den EU-Vorschriften, doch die zuständigen Bundesländer sind mit Ausnahmegenehmigungen großzügig. Das Geschäft der 23 biodynamischen Züchter bleibt bescheiden, Biosaatgut eine Nische in der Nische.

Untereinander verstehen sich die Züchter nicht als Konkurrenten, sondern als gemeinsame Front gegen die Hybridzüchter – und vor allem gegen die Gentechnik. Spätestens bei diesem Thema verliert Bauer seine Zurückhaltung, richtet sich im Schreibtischstuhl auf und wettert kräftig gegen „die verlogene Branche“ und ihre Verheißungen. Den Welthunger wollten sie angeblich besiegen – wo es doch nur ums Geldverdienen gehe. Bauer setzt auf die Verbraucher als Verbündete: „Vor fünf Jahren dachte ich, die Gentechnik sei nicht mehr aufzuhalten, doch die Verbraucher haben Angst.“

Das kritische Potenzial will er nutzen: Im hofeigenen Laden werden an den Kisten mit den Kohlköpfen und Möhren bald die Sortennamen stehen, damit die Kunden die Vielfalt von Form und Geschmack besser wahrnehmen. Eine Möhre ist eine Möhre ist eine Möhre? Von wegen!

EVA KELLER ist freie Journalistin und lebt in Frankfurt am Main