Manche Träume können foltern


„Wenn ich die richtige Stimme hätte, wäre ich auch gern bei den Superstars dabei gewesen“

aus Chamerau JAN ROSENKRANZ

Sprich nicht mit dem Publikum. Die Jury sieht das gar nicht gern. Tritt ab von der Bühne, wie du gekommen bist. Rechts rauf, rechts runter. Links wartet der Moderator. Er sagt die Künstler an. Nicht du. Du bist Talent. Talente sprechen nicht. Talente singen und tanzen, sollen gut aussehen dabei, und zum Umziehen gehen sie aufs Klo.

Deutschland sucht den Superstar. Chamerau sucht das „Talent Südostbayern“. Chamerau am Regen bei Cham im Bayerischen Wald. Es gibt nicht viel in diesem Luftkurort. Viel Schnee und eben den Regen, der breit und gemächlich zur Donau fließt, knapp 2.000 Bürger und hinter der Schule das „Haus des Gastes“, wo an diesem Samstagabend im Februar der „Live Gesangswettbewerb vor Prominenten-Jury“ ausgetragen wird. „Wir geben dem Nachwuchs eine Chance.“ So steht es auf den Plakaten im Ort. Beginn: 20 Uhr.

Grüne Folie fließt die Wände hinab, hängt unter der Decke neben bunten Luftballons, Silberpapier ist um die Stützpfeiler drapiert. Der Saal sieht aus, als solle er heute verschenkt werden – geschmückt noch von Weihnachten und schon für den Fasching und noch einmal eigens für diesen Abend. Diesen Abend, der zählt. Ohne Quirl vor dem Spiegel, sondern mit Mikrofon auf der Bühne. Hoffnung trifft Publikum. Traum trifft Realität. Traum in Britney-Pink und Groupie-Schrill, mit echtem Gold im Dekolleté und weit und breit niemand, der um acht zum Schlafen schickt. Manche Träume können foltern.

Sie steht hinterm Vorhang und knetet die schweißnassen Hände. Rechts rauf und rechts runter, nur nicht sprechen, hat der Moderator bei der Vorbesprechung gesagt. Sag mal was, hat der Tontechniker beim Soundcheck gesagt. „Was soll ich denn sagen“, hat sie unsicher gefragt. Und er hat bloß „Danke“ gesagt. Sie heißt Heidi, ist 13 und zum Sterben nervös. Auf der Bühne wippt der Moderator lässig ans Pult und sagt: „Startnummero 7.“ Nummero. Immer sagt er Nummero. „Aus Zwethau in Sachsen. Heidi Opelt.“ Und sie tippelt nach vorne, von rechts, na klar, und gut sieht sie aus, im weißen Glockenkleid mit Gürtel und freien Schultern und langem Lockenhaar. Engelsgleich. Das Band fährt ab, und sie singt zart ins Mikrofon: „Alle Kinder dieser Welt möchten glücklich sein“ und „Wir wollen nur den Frieden, mehr wollen wir nicht.“ Applaus und alle gerührt. „Ein Lied, das in unsere Zeit passt“, sagt der Moderator ergriffen.

Zitzelsberger, Peter, so heißt er, der Moderator, der Organisator und Chef: Mitte 50, mit Locken und Oberlippenbart, in taubenblauem Jacket und ölfleckschillernder Krawatte. Sein halbes Leben hat er in der Gastronomie gearbeitet. Bis der Zucker kam. Seit 13 Jahren moderiert er eine Schlagersendung im Radio „Inn-Salzach-Welle“. Und irgendwann fiel ihm auf, dass den jungen Künstlern eine Plattform fehlt, ein echte Chance, ohne vorheriges Casting.

Sicher, es gibt viele Talentwettbewerbe, auf Feuerwehr- und Volksfesten, auf Marktplätzen und in Diskos. Sie heißen „Sängerwettstreit“ oder „Talente ans Mikrofon“, „Sprungbrett“ oder „Die Stimme Ostfrieslands“. Da geht es um die Ehre, einen Sachpreis und die Hoffnung, endlich entdeckt zu werden. Beim Zitzelsberger in Chamerau aber, da geht es um mehr: um nichts weniger als die Zukunft. Um einen verdammt noch mal echten Plattenvertrag. Sieben kommen heute Abend weiter, kommen wieder Ende März, wenn die Sieger aus drei Vorrunden um die Wette singen.

Der Gewinner darf im „ass Soundstudio Tirol“ eine CD aufnehmen. Wie beim echten „Deutschland sucht den Superstar“, kurz: DSDS. Nur kleiner, nur nicht im Fernsehen. „Ungerecht is des scho. Ich war früher da mit der Idee“, sagt Zitzelsberger. Hat dem Sender 9Live angeboten, exklusiv seine Show zu übertragen. Aber die wollten nicht. Und erst dann kam RTL. Er kann es noch immer nicht fassen.

Aber so ist es nun mal gelaufen. In seiner Jury sitzt zwar kein Dieter Bohlen, in seiner Jury sitzt der Bürgermeister von Chamerau. Und der singende Exbürgermeister von Vilshofen, ein schlagersingender Bayern-3-Moderator und Sigrid & Marina, das österreichische Gesangsduo. Die sind schon ein bisschen prominent. Haben vor Jahren in der Vorrunde von Chamerau gesungen, wurden gleich ins Studio geholt und sind am Gründonnerstag bei Marianne und Michael im ZDF. Nicht DSDS, aber immerhin öffentlich-rechtlich.

Trotzdem ist der Saal nicht voll. Vielleicht liegt’s am Wetter, vielleicht an den acht Euro Eintritt. Zitzelsberger hat mit 120 zahlenden Gästen gerechnet. Minimum. Gekommen sind nur 70 – nur die Familien und Freunde und Fans der Talente. Ja, Fans! Die Startnummero 10 hat sogar einen Fan-Club! Und ein Feuerzeug, auf dem die Fan-Club-Adresse steht. „Mein Club hat so um die 250 Mitglieder. Aber viele sind krank oder müssen arbeiten. Leider“, sagt Nummero 10. Sie heißt Mario Niklas und tritt regelmäßig bei Hochzeiten oder Vereinsfeiern auf – für 200 Euro. Semiprofi, 23 Jahre alt und kommt aus Straubing, wo er im „Mediamarkt“ schafft und geduldig auf den Durchbruch wartet. „Die suchen für a Band, die wo’s scho gibt, an Sänger in deim Alter“, hat die Frau am Einlass gesagt und ihm eine Visitenkarte überreicht. „Meld dich do amol.“ Mario singt am liebsten Schlager, vor allem G.G. Anderson oder Johnny Logan. Heute Abend singt er beide: „Und wenn du morgen gehst“ vom G.G. und „Love is all“ vom Johnny – immer ohne Hampeln oder sonstigen Spirenz. Mario – ein Mann steht seinen Turm.

Die Kellnerin bringt Helles und Schnitzel. Die Tombola-Frau verkauft Lose und selbst gebrannte „Superstar“-CDs. Die Fans schießen so viele Fotos von ihren Stars, dass es für ein Daumenkino reicht. Und Nummero 12, ein schmales Mädchen im schwarzen Kostüm, schleicht vorsichtig von der Bühne. Sie wollte alles richtig machen, nur rechts, nicht sprechen, nur singen, gut aussehen. Sie heißt Kristyna und wäre jetzt gern unsichtbar oder weit weg. Die Jury hat freundlich gelächelt. Vielleicht war es Mitleid. Die CD ist jedenfalls futsch, das ahnt sie. Die Eltern scheinen es zu wissen. Vater sagt nichts. Kramt nur umständlich in der Packung „Petra“-Zigaretten. Mutter blickt stur zur Bühne, und die kleine Schwester kämpft mit ihren Tränen.

Beim Wettbewerb geht es um die Ehre, einen Sachpreis und die Hoffnung, endlich entdeckt zu werden

„In diesem Geschäft gibt es viele Schweine. Es ist ein saumäßiges Geschäft“, sagt Moderator Zitzelsberger immer. Dann zieht er tiefe Furchen in sein Gesicht. Er hat da seine Erfahrungen gemacht. Gleich bei der ersten Show ist der Partner mit den Einnahmen durchgebrannt. 700 Mark weg. Der Typ war Österreicher, ein so genannter Produzent. Und dann damals. Noch so einer. Saß in der Jury, hat die Talente heimlich abgeworben und Studioaufnahmen gemacht, für viel Geld, für ihr Geld. Natürlich haben sie nie wieder von ihm gehört. Schweinegeschäft.

„Man muss aufpassen auf die Kinder, das ist ja alles nicht ohne“, sagt die ältere Frau im offenen Karohemd. Hannelore Walzel sitzt neben der Mutter von Claudia von „Stephanie und Claudia – Saxophonsound aus dem Orlatal“. Frau Walzel ist die einstige Hortnerin und heutige Managerin von Heidi Opelt. Eigentlich managt sie „Heidi & Co“, aber Co hat heute einen Gig in Sachsen. „Ich lass die Heidi nie allein zu so was fahren. Jemand muss ja dabei sein, muss aufpassen, dass die Flaschen immer fest zu sind und die Gläser abgedeckt, sonst kippt da einer was rein, Rauschgift oder so“, sagt Frau Walzel. Heidi lächelt. Engelsgleich. Sie ist schon mal Dritte geworden. Bei „Herzklopfen kostenlos“ in Pößneck. „Wenn ich die richtige Stimme hätte, wäre ich auch gern bei den Superstars dabei gewesen“, sagt Heidi.

Heidi wird Vierte, Mario Dritter, Stephanie und Claudia werden Zweite und Armin Stöckl, Startnummero 6, gewinnt. Er hat „Sexbomb“ gesungen und dabei sein Jackett wie Tom Jones von der Bühne geschleudert. Und „Can you feel the love tonight“ geschmachtet wie Elton John. Er könnte Superstar sein. Vielleicht. Noch ist er Geschäftsleiter einer Holzhandlung in Vilshofen.

„Der Mario, der hat Vollplayback gesungen“, beschwert sich Claudias Mutter. „Das ist ungerecht“, sagt Frau Walzel. „Dann hätten wir ihn disqualifiziert“, sagt Zitzelsberger. Er ist müde. Er muss die Techniker noch bezahlen. Claudias Mutter überlegt, ob sie unter diesen Umständen überhaupt zur Endrunde kommen. „Das können wir den Kindern nicht antun“, sagt Frau Walzel. Es ist kurz vor Mitternacht. Draußen fällt Schnee. Es ist weit bis nach Hause. Sie müssen los. Es gibt nicht viel in Chamerau, außer viel Schnee und den Regen und manchmal einen Wettbewerb, der jedem die Chance gibt, entdeckt zu werden.