Weltsozialforum? Ja, aber

Die wichtigste Veranstaltung der GlobalisierungskritikerInnen droht zum Megaevent ohne Folgen zu werden. Nötig sind nicht Promi-Auftritte, sondern Kontroversen

Weiße Intellektuelle, Frontalrhetorik, Personenkult – die Negativbilanz von Porto Alegre 2003 Altlinke, Stiftungen mit viel Geld, jetzt auch „lokale Geschäftsleute und Industrielle“ – alle reden sie mit

Wachstum kann bekanntlich ersticken. Die Geschichte der Sozialforen seit 2001 ist zweifellos eine Wachstumsgeschichte: immer mehr Teilnehmende, mehr Themen, mehr Foren auf regionaler und nationaler Ebene, wachsende Medienweihen. Diese Geschichte unterstreicht die zunehmende politische Glaubwürdigkeit der globalisierungskritischen Bewegungen.

Bewegungspolitisch betrachtet, war die Erfindung des Weltsozialforums ein genialer Coup – nicht nur weil neue politische Akteure neue Politikformen brauchen, um ihre Identität herzustellen, sich zu organisieren und öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Das WSF entwickelte politische Symbolkraft als demokratische Gegenkultur zum Treffen der Davos-Männer, die auf ihrem fast zeitgleich stattfindenden Weltwirtschaftsforum in den Schweizer Alpen über Regeln und Richtung des Neoliberalismus entscheiden. Gleichzeitig half die große praktische Attraktivität des WSF als Zukunftswerkstatt, dass die GlobalisierungskritikerInnen den Ruf der Nurprotestler loswurden und Gegenstrategien zu bündeln begannen, um „eine andere Welt“ möglich zu machen.

Im Jahre 4 ihrer Biografie stellen die Foren auf dem WSF bereits Institutionen, ja Rituale dar. Aufgebrochen waren die Bewegungen gegen die neoliberale Globalisierung mit einer klaren Absage an Parteien, alte politische Wahrheiten und Ideologien. Ebenso grenzten sie sich gegen die Lobby- und Verhandlungskultur ab, die die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den Neunzigerjahren perfektioniert hatten. Das WSF schrieb sich als undogmatische Magnetformel den Anspruch in seine Charta, „offener Raum der Begegnung“ zu sein.

Doch sowohl auf den Regionalforen wie auch beim Weltsozialforum wuchs der Einfluss von altlinken Parteien. Im letzten Jahr ließ sich der brasilianische Präsident Lula auf dem Forum in Porto Alegre feiern – und reiste dann nach Davos. In Florenz, beim Europäischen Sozialforum, setzte die Rifondazione Comunista mehr als Duftmarken, und in Indien mischte sich die Kommunistische Partei CPI(M) beim Asiatischen Sozialforum direkt wortführend unter die GlobalisierungskritikerInnen – obwohl sie in Westbengalen, wo sie an der Macht ist, selbst handfeste neoliberale Politik betreibt.

Andererseits: Zuhauf strömen in die Jahre und Krise gekommene Gewerkschaften auf die Foren, die in ihrer Kritik am neoliberalen System als Ganzem und an der Standortlogik im Besonderen im Interesse der Arbeitsplatzsicherung höchst zurückhaltend sind. Ohne die wachsende finanzielle Unterstützung etablierter politischer Stiftungen und NGOs der professionellen Armuts- und Hungerbekämpfung oder des Menschenrechts- und Umweltschutzes wären die Foren allemal nicht möglich. Zudem startete das indische Vorbereitungskomitee eine noch integrativere Einladungsoffensive gegenüber „einem breiten Spektrum von Parteien“, „Parlamentariern und sympathisierenden Verwaltungsangestellten“ sowie „lokalen Geschäftsleuten und Industriellen“. Prototypisch für solche Annäherungen ist die Forderung der deutschen Bischöfin Käßmann, das WSF müsse nun Brücken nach Davos schlagen.

Kein Zweifel, der Widerstand gegen den transnationalen Konzernkapitalismus braucht eine breite Basis, um als globale Gegenmacht von unten Durchsetzungskraft zu gewinnen. Der Wert des Forums liegt gerade darin, sich als Versammlungsort der Vielfalt, als Kristallisationsarena für kluge Ideen, wildes Denken und strategische Handlungsansätze anzubieten. Doch die Grenzlinie zwischen wachsender politischer Breite und Beliebigkeit ist haardünn. Entscheidend ist, ob die kunterbunte Vielfalt sich tatsächlich durch Austausch und Auseinandersetzung in Stärke und ebenso vielfältige politische Aktion umsetzt oder sich zu einem Tummelplatz alternativer Beliebigkeit verbreitert, wo der verbalradikale Pauschalprotest gegen Imperialismus und Militalisierung, Queer-Konzepte und die Inflation sozialdemokratisierter Forderungen nach humaner, sozialer, umweltgerechterer, demokratischerer usw. „Gestaltung“ der Globalisierung ebenso munter wie unverbindlich nebeneinander stehen.

Nach dem mit 100.000 TeilnehmerInnen und 1.000 Veranstaltungen ebenso gigantischen wie chaotischen Forum 2003 hagelte es Kritik. Entsteht auf dem Forum eine neue politische Kultur? Die Programmplanung war wenig transparent vonstatten gegangen. Der Programmaufbau folgte einer Hierarchie, die die Organisatoren elegant als „Pyramide“ beschrieben, mit Megaveranstaltungen für zigtausende TeilnehmerInnen als die Spitzenevents, mit einem Starkult um die Bewegungsintellektuellen und -literatInnen, mit mehr Frontalrhetorik als Debatte.

Der Porto-Alegre-Mensch war der weiße intellektuelle Mann mittleren Alters. Feministinnen, Indigene und Junge zogen meist den Kürzeren beim Kampf um die begehrten Plätze auf den Podien. Bildung im Frontalformat dominierte über Dialog, Debatte und Kontroverse. Das Forum war mehr Akademie als handlungsorientierte Werkstatt der Vernetzung und Aktionsplanung. Sprengt die Größe die Form auf? Erstickt das WSF an seinem Erfolg, kollabiert es unter seinem Prinzip der Offenheit?

Das Forum hatte nie den Anspruch, Königswege globalisierungskritischer Kämpfe vorzuzeichnen, Blueprints für die „andere Welt“ oder alternative Großentwürfe auf die Beine zu stellen. Die Vielfältigkeit von Konzepten, Perspektiven und Praktiken spiegelt die Vielfalt der Akteure und Ansätze. Die sind nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen. Nicht eine, sondern viele andere Welten sind möglich. Doch der notwendige Austausch über die bereits existierenden alternativen Praktiken ist bisher ebenso zu kurz gekommen wie der Streit über alternative und Antiglobalisierungskonzepte – Deglobalisierung, Globalisierung des keynesianischen Wohlfahrtsstaates und von Rechten, Lokalisierung, Wiedergewinnung nationalstaatlicher oder lokaler Souveränität.

Für einen Ortswechsel des WSF war es nicht nur wegen der Globalität der Bewegungen höchste Zeit. In Mumbai werden andere Globalisierungserfahrungen und andere soziale Bewegungen neue Impulse geben und andere Akzente setzen. Das allein kann’s aber nicht sein. In Mumbai werden nämlich auch die Gegensätze zwischen sozialen Bewegungen, NGOs und altlinken Parteien und Gewerkschaften mehr denn je bloßliegen. Deshalb muss dort das Potenzial, das gerade in der Pluralität der politischen AkteurInnen steckt, stärker für Debatten und Kontroversen über mögliche Alternativen und gemeinsame, aber dezentrale Aktionen genutzt werden. Wenn die Unterschiede nicht konstruktiv diskutiert werden, wenn nicht strategischer gebündelt und handlungsorientierter vernetzt wird, droht das WSF in seiner postmodernen Kunterbuntheit zu einem folgenlosen Tummelplatz der Globalisierungskritik und einer weiteren Station im Event-Hopping ihrer Prominenten zu verflachen.

CHRISTA WICHTERICH

Die Autorin ist Soziologin, Publizistin, Beraterin in der Entwicklungszusammenarbeit und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac. 2003 erschien ihr Buch „Femme global – Globalisierung ist nicht geschlechtsneutral“ (VSA-Verlag)