Das Kind kann sprechen!

Weil sich viele Kinder auf der gleichen sprachlichen Ebene wie ihre Trickfilmhelden bewegen, müssen sie in Berlin vor ihrer Einschulung zum Sprachtest. Was dort für knifflige Fragen und bärenstarke Aufgaben gestellt werden, erzählt diese Geschichte

von ROBERT NAUMANN

„Aufstehn!“ – Ich mag es, wenn man mir beim Wecken zärtlich über die Wange streicht. Das habe ich meiner Frau auch schon mehrmals gesagt. Aber es interessiert sie nicht. Wie ein Feldwebel brüllt sie rum: „Aufstehn!“

Warum muss ich eigentlich aufstehen? Ach ja, das Kind muss zum Sprachtest. Bevor sie in die erste Klasse kommen, müssen die Kinder in Berlin zum Bärenstark-Sprachtest. Weil man festgestellt hat, dass sich die meisten Kinder auf der gleichen sprachlichen Ebene wie ihre Trickfilmhelden bewegen. Tom und Jerry zum Beispiel, und die lassen ja bekanntlich eher Taten sprechen als Worte. So, Frühstück, Kaffee, Zigarette, aufs Klo, Schuhe und Jacke an, fertig. Zehn Minuten zu früh. Also auch noch zu früh geweckt. Unfreundlich und zu früh. Und da soll man dann womöglich auch noch ein freundliches Gesicht zu machen. Nee, nicht mit mir. Ich knurre meine Frau an. So, das wird ihr hoffentlich eine Lehre gewesen sein. Schwitzend stehen wir zehn Minuten im Flur rum. Meiner schlechten Laune tut das keinen Abbruch. Man hätte sich noch mal ausziehen, schnell eine Partie Blitzschach am Computer spielen können, dann wieder anziehen. Aber dafür ist es nun zu spät. Die besten Gedanken kommen einem immer erst, wenn es schon zu spät ist.

Gern würde ich wieder zurück ins Bett. Hoffnungsvoll frage ich Grete: „Willst du wirklich schon in die erste Klasse? Überleg dir das noch mal!“ Sie nickt.

„Kannst du überhaupt sprechen? Sonst hat das gar keinen Sinn. Brauchen wir gar nicht erst losgehen.“ Sie nickt wieder.

„Beim Sprachtest fällst du damit durch, ist dir das klar?“ Grete nickt. Egal, los geht’s. In der U-Bahn will ich in Ruhe Zeitung lesen, aber Grete plappert auf mich ein. Kann also doch sprechen. Im Moment wäre es mir lieber, sie könnte nicht. „Papa, wenn die Erde eine Kugel ist, die sich dreht, warum fallen wir dann nicht runter?“ – „Weil die Erde gar keine Kugel ist, sondern so eine flache Scheibe. Da kann man nicht runterfallen. Man darf nur nicht zu nah an den Rand kommen.“ – „Aber Peter Lustig hat gesagt …“ – „Mir ist ganz egal, was Peter Lustig sagt. Bin ich dein Papa oder der? Also!“

In der Schule müssen wir ins Sekretariat, zum Vorgespräch. Die Sekretärin stellt Fragen.

„Herkunft des Kindes?“ – „Deutsch.“ – „Staatsangehörigkeit des Kindes?“ – „Deutsch.“ – „Sprache des Kindes?“ – „Deutsch.“ – „Herkunft der Mutter?“ – „Deutsch.“ – „Staatsangehörigkeit der Mutter?“ – „Deutsch.“ – „Sprache der Mutter?“ – „Deutsch.“ – „Herkunft des Vaters?“ – „Deutsch.“ – „Staatsangehörigkeit des Vaters?“ – „Na raten Sie mal.“

Die Sekretärin zuckt zusammen. Alles lief so glatt, und jetzt das. So kurz vor dem Schluss, sie hatte nur noch drei Fragen. Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber sie gibt sich einen Ruck und reagiert professionell.

„Ich wiederhole die Frage noch mal: Staatsangehörigkeit des Vaters?“ – „Deutsch.“ Sie atmet erleichtert auf.

„Sprache des Vaters?“ – „Deutsch.“ – „Wie spricht die Mutter mit dem Kind?“ – „Deutsch.“ – „Wie spricht der Vater mit dem Kind?“ – „Suaheli.“

Ein kleiner Scherz, der nicht so gut ankommt. Die Sekretärin guckt böse.

„Äh, ’tschuldigung, Deutsch meine ich. Ich verwechsel das immer.“

Sie seufzt genervt, dann streicht sie Suaheli durch. Sie hatte den Scherz wohl nicht verstanden.

„So, das war’s, jetzt geht’s zum Test.“

„Wollen sie nicht wissen, wie Gretes Schwester mit ihr spricht? Also ihre Schwester ist indonesischer Herkunft, hat die österreichische Staatsbürgerschaft und spricht Russisch mit ihr.“

Mein Humor prallt erfolglos an ihr ab. Sie verzieht nicht mal die Mundwinkel. Der Fragebogen ist ausgefüllt, alles andere gehört nicht mehr in ihr Ressort. Grete wird in ein Klassenzimmer gebeten, ich muss draußen bleiben. Jetzt heißt es Daumen drücken. Wird das Kind bestehen? Sie ist ja eigentlich nicht auf den Kopf gefallen. Müsste das doch packen. Nach einer halben Stunde geht die Tür auf. Die Lehrerin kommt raus. Und?

„Alles in Ordnung. Sie lispelt nur leicht.“ Sie hat’s geschafft!

„Grete, ich bin stolz auf dich.“ Grete nickt.

Auf der Rückfahrt frage ich, was sie denn machen musste beim Test.

„Ich sollte den Teddybär aufs Bett legen.“

„Und dann?“

„Dann sollte ich das Bett auf den Teddybär legen.“

„Ach.“

„Ne, Quatsch, den Teddybär unters Bett. Und dann noch daneben, davor und dahinter.“

Das sollte nun der ganze Sprachtest gewesen sein? Und dafür bin ich früher aufgestanden? Sogar früher plus zehn Minuten noch mal früher? Na ja, immerhin hat Grete den Bärenstark-Sprachtest bestanden. Das ist doch das wichtigste. „Stimmt’s, Grete!?“ Grete nickt.