Flexibler Wechsel von Freizeit und Unterricht

In der Schöneberger Werbellinsee-Schule herrscht bereits Schulpflicht von 8 bis 16 Uhr. Das entlastet arbeitende Eltern und ermöglicht eine pädagogische Rundumbetreuung. Die Rektorin setzt auf engagierte Eltern und Lehrer

Dieser Sarg ist zu klein. Wenn der Sechstklässler Tom Jeworowski sich hineinlegt, stehen seine Füße über. „Aber Tom muss da reinpassen“, sinniert der zwölfjährige Johannes Kraft. „Einen kürzeren als Tom haben wir nicht.“ Also anbauen. Johannes greift zu Pappe und Messer. Wie in jedem Jahr ist die sechste Klasse zuständig für die Ausstattung einer Geisterbahn zum Fasching. Die Idee mit dem Sarg hatten die Steppkes gemeinsam. „Damit die Erstklässler sich mal richtig erschrecken“, sagt Tom.

Ein Stockwerk tiefer denken an diesem Nachmittag Schüler der vierten bis sechsten Klasse angestrengt darüber nach, was ihnen zum Thema Wasser einfällt. „Warum leitet Wasser Strom“, schreibt Fabrice Jean Ryba auf einen Zettel. Während Tom und Johannes schon Freizeit haben, sitzt er noch im Projektunterricht. Der flexible Wechsel von Freizeit und Unterricht bis in den späten Nachmittag ist Alltag an der Werbellinsee-Grundschule in Schöneberg. An der so genannten gebundenen Ganztagsschule herrscht Schulpflicht von 8 bis 16 Uhr.

Solche Betreuungszeiten gefallen vor allem der berufstätigen Mittelschicht. Deswegen rennen Eltern der Rektorin Ellen Hansen die Tür ein. Weil ihr Haus jedoch nur Kinder aus dem Winterfeldt-Kiez aufnehmen darf, beschaffen sich viele Familien sogar Deckadressen in Schulnähe. Die Begeisterung für das Konzept der Werbellinseeschule hat auch inhaltliche Gründe. Sie kann ihren Unterricht freier gestalten als andere. Traditioneller Frontalunterricht wechselt mit Projekten, die sich über ein halbes Jahr einem Thema widmen. Die Schüler bekommen außerdem am Wochenanfang Aufgaben gestellt. Wann und wie sie diese erfüllen, bleibt ihnen weitgehend selbst überlassen. So kann auf eine anstrengende Mathestunde auch mal eine längere Spielphase folgen, ohne dass Unterricht ausfällt.

Dieses Konzept lässt sich nur umsetzen, weil Erzieher und Lehrer eng zusammenarbeiten. „Ich lasse keinen an die Schule, der nicht sagt, er sei zu Teamarbeit mindestens bereit“, betont Rektorin Hansen. Über die gesetzlich vorgeschriebenen Gremien hinaus verlangt sie von ihren Mitarbeitern Zusammenarbeit. Individuelle Stärken und Schwächen der Schüler lassen sich so besser berücksichtigen. Dafür lässt die Rektorin den Mitarbeitern Raum für eigene Ideen.

„Wir wollen, dass selbstständige, schlaue und demokratieerfahrene Kinder unsere Schule verlassen“, umreißt Rektorin Hansen ihren Anspruch. Dazu gibt es in den Klassen ein umfangreiches Ämterwesen. Jeder ist für irgendetwas verantwortlich: Hausaufgaben einsammeln, Klassenzimmer aufräumen, Streits schlichten. Zu Letzterem tagt gerade der wöchentliche Klassenrat. Der liest vor versammelter Mannschaft kleine Beschwerdezettel vor, die Schüler in eine Box eingeworfen haben. Gemeinsam beraten die Kinder dann über Sätze wie: „Benny nervt die Mädchen.“

Solche Liebe zum Detail hat der Schule einen guten Ruf eingebracht. Aber der ist Ellen Hansen nicht nur eine Lust. „Ich sehe das schon als Bestätigung für meine Arbeit“. Aber weil viele Eltern ihre Kinder an der Schule unterbringen, obwohl sie in anderen Stadtteilen wohnen, fürchtet Hansen um den Kiezcharakter ihres Hauses. „Die Kinder sollten nicht dem Schultourismus ausgesetzt werden“, fordert Hansen, „denn bei uns lernen sie eigenständig zu leben. Aber draußen bleiben sie von ihren Eltern abhängig, die sie mit dem Auto abholen.“ Zudem erschwerten es die langen Anfahrten den Erwachsenen, sich für die Schule zu engagieren. Zumindest beim Fasching können die Sargbauer auf elterliche Hilfe verzichten. Die gruselige Pappschachtel haben Johannes und Tom fertig. MATTHIAS BRAUN