Auf Crashkurs mit der Realität

Die Retrospektive des Wiener Filmfests drehte sich dieses Jahr um „Los Angeles – Eine Stadt im Film“. Kein Ort ist so eng mit der Filmindustrie verbunden – ihren Reiz ziehen viele L.A.-Filme aber oft daraus, sie effekthascherisch und unkorrekt abzubilden

Überraschend viele Los-Angeles-Filme haben große Freude, wenn Dinge und Waren zu Bruch gehen. Vor allem Autos und Vorstadthäuser

VON CRISTINA NORD

In Jack Hills B-Movie „Pit Stop“ aus dem Jahr 1969 gibt es eine Autorennbahn, die die Form einer Acht hat. Die Rennfahrer müssen schnell sein, sich gut in die Kurven legen, die Kontrolle über ihr Fahrzeug behalten, und sie müssen an der Kreuzung aufpassen, dass sie mit niemandem zusammenstoßen. Den meisten gelingt das nicht, deshalb sind von den 20 Wagen, die an den Start gehen, nach dem Rennen 19 Schrott. Jack Hill notierte, er habe sich vor den Dreharbeiten nicht sonderlich für Autorennen interessiert. „Aber ‚Pit Stop‘ gab mir die Gelegenheit, aus dem Sexfilmbereich herauszukommen. Als ich dann diese Rennen näher begutachtet hatte, hatte ich das Gefühl, diese besondere Ausprägung amerikanischen Irrsinns für die Nachwelt festhalten zu müssen.“

„Pit Stop“ läuft im Rahmen der Retrospektive „Los Angeles – Eine Stadt im Film“, die das Wiener Filmmuseum und das Filmfestival Viennale organisiert haben und die noch bis zum 5. November dauert. Kuratiert hat die Schau der Filmemacher und -historiker Thom Andersen, der seit 1947, seit seinem vierten Lebensjahr, in Los Angeles lebt. Die südkalifornische Stadt ist mit der Film- und Unterhaltungsindustrie verwoben wie kein zweiter Ort der Welt – für Andersen aber ist das kein Grund für Schwärmereien. 2003 hat er mit „Los Angeles Plays Itself“ einen polemischen Essayfilm vorgelegt, in dem er sich mit der Darstellung seiner Heimatstadt im Kino befasst.

Es ist ein wütendes Pamphlet, weil Andersen die Arroganz, mit der Hollywood Los Angeles behandelt, nicht hinnehmen will. Er beklagt den willkürlichen Umgang vieler Filmemacher mit der realen Topografie und der realen Stadtgeschichte. Die Nonchalance, mit der in Spektakel- und Katastrophenfilmen die Stadt zerstört wird, ärgert ihn genauso wie das, was er in Anlehnung an die „dichterische Freiheit“ die „geografische Freiheit“ nennt – wenn etwa bei einer Verfolgungsjagd die tatsächliche Topografie nicht berücksichtigt wird und Szenen unmittelbar aneinandermontiert sind, obwohl sie an weit voneinander entfernten Orten aufgenommen wurden. Vor allem stört ihn der Zynismus, den Filme wie „Chinatown“ pflegen: In ihrem Fatalismus tun sie so, als sei jedes Eingreifen in die Zeitläufte, als sei jedes politische Handeln müßig.

Wäre diese Kritik alles, „Los Angeles Plays Itself“ wäre nicht viel mehr als aus der Mode gekommene Ideologiekritik. Doch Andersen unternimmt die gewaltige Anstrengung, Sozial- und Stadtgeschichte mithilfe des Filmmaterials greifbar zu machen. Er erzählt von Grundstücks- und Immobilienspekulation, von Korruption, vom Verkehr, von den Kämpfen ums Wasser, von der Gewalttätigkeit der Polizei, von den Prozessen der Gentrifizierung und von der Marginalisierung der indigenen, der afroamerikanischen und der mexikanischstämmigen Bevölkerungsgruppen.

Sein Essayfilm leistet zudem archäologische Arbeit, indem er viele unbekannte Filme vorstellt, die eben doch etwas vermitteln von der Stadt, in der sie entstanden sind – etwa die neorealistisch inspirierten Arbeiten von Charles Burnett, die den Alltag von Afroamerikanern in South Central Los Angeles festhalten, oder Kent Mackenzies mit Laiendarstellern gedrehter Film „The Exiles“ (1958–1961) über drei junge Indianer, die, nachdem sie aus den Reservaten fortgegangen sind, im Stadtteil Bunker Hill Fuß zu fassen versuchen.

Die Retrospektive in Wien folgt vor allem diesem zweiten Strang, sie zeigt Filme, die, wie Andersen notiert, „ein wahres, gültiges und nützliches Bild von Los Angeles und seinen Bewohnern präsentieren“. Das klingt erbaulicher und didaktischer, als es sich im Kino darstellt. Denn die Schau bewegt sich quer durch die Genres und die Filmgeschichte – früher Slapstick, gedreht im Vergnügungspark von Venice Beach oder in den noch unbebauten Hollywood Hills, steht ebenso auf dem Programm wie der Film Noir der Fünfzigerjahre, dazu kommen viele Exploitationfilme, Underground oder filmischer Bewusstseinsstrom. „The Savage Eye“, ein Gemeinschaftsprojekt von Ben Maddow, Sidney Meyers und Joseph Strick aus dem Jahr 1960, besteht aus fließenden Schwarzweißaufnahmen der Stadt. Bilder aus Kirchen, aus Friseursalons, Restaurants, Krankenhäusern und Nachtclubs, von Autounfällen und Tierfriedhöfen verschalten sich mit der Subjektivität der Protagonistin, einer verbitterten, geschiedenen Frau, zu einem dichten, nihilistischen Film.

Überraschend viele der von Andersen ausgewählten Arbeiten haben große Freude, wenn Dinge und Waren zu Bruch gehen. Das galt schon in den Zwanzigern für die hinreißenden Slapsticks des Produzenten Mack Sennett oder für die Arbeiten der Komiker Harold Lloyd, Stan Laurel und Oliver Hardy. In dem Kurzfilm „Big Businnes“ (1929) fahren Laurel und Hardy als Weihnachtsbaumverkäufer durch die gerade im Entstehen begriffenen Vororte von Los Angeles. Ein Eigenheimbesitzer weist ihnen die Tür, es kommt zum Streit, aus den verbalen Verletzungen werden rasch gemeine Taten. Der Mann mit dem Schnauzbart holt eine Schere und schneidet ein Stück Stoff aus Hardys Hemd, ohne dass Hardy eingreift. Erst nachdem die Tat vollbracht ist, schreitet er gemeinsam mit Laurel zur Gegenwehr. Sie montieren die Klingel neben der Haustür ab; der Schnauzbärtige reißt den Scheinwerfer ihres Wagens vom Kotflügel. Sie montieren eine Außenlampe ab; er schlägt die Windschutzscheibe ein, sie lassen das Wohnzimmerfenster zu Bruch gehen; er trampelt auf dem Trittbrett herum; sie holen das Klavier aus dem Haus und reißen Saite für Saite einzeln heraus. Immer abwechselnd, tit for tat, in einer wohldosierten Mischung aus Aktion, Beobachten und Reaktion. Am Ende ist das Auto zerlegt, vom Einfamilienhaus stehen gerade noch die Grundmauern, die wesentlichen Bedingungen für die Existenz in Los Angeles – das eigene Auto, das eigene Haus in Suburbia – sind kaputt. Laurel und Hardy fliehen vor einem Polizisten. Vergnügt sind sie trotzdem.

Auch anderswo gehen Dinge zu Bruch. In Penelope Spheeris’ Punk-Dokumentation „The Decline of Western Civilization“ (1981) etwa wird die Inneneinrichtung mehrerer Clubs in ihre Einzelteile zerlegt, weil die Bands und ihre Fans beim Pogotanzen jedes Maß verlieren. In Henry B. Halickis „Gone in 60 Seconds“ (1974) gibt es eine 40 Minuten dauernde Verfolgungsjagd, in deren Verlauf fast hundert Autos Totalschaden erleiden. Der deutsche Verleihtitel lautete passenderweise „Die Blechpiraten“. Und in Roger Cormans Hells-Angels-Film „The Wild Angels“ (1966) hält sich die Motorradgang nicht einmal bei der Beerdigung eines ihrer Mitglieder zurück. Die Kirchenmöbel splittern, der Pfarrer wird gefesselt und in den Sarg gelegt, der Tote auf eine Bank gezerrt, die Witwe wird dazu gezwungen, die Leiche zu herzen.

Dabei geht es der Retrospektive ein bisschen wie der achtförmigen Autorennbahn in „Pit Stop“: Es kommt beständig zu Karambolagen zwischen dem Wunsch nach realistischer, die wirklichen Gegebenheiten der Stadt berücksichtigender Darstellung und dem Überschuss, der in den Filmen steckt. Schließlich interessiert an „Gone in 60 Seconds“ dann doch weniger, dass der Film sich loyal zur Topografie verhält – dafür stehen Geschwindigkeit und Zerstörungslust zu sehr im Vordergrund. Man könnte dieses Kollidieren als ein Indiz dafür sehen, dass Andersen sein Material zu sehr in den Dienst seiner Thesen stellt. Doch je mehr Filme der Schau man sieht, umso weniger hat man den Eindruck, dass das stadthistorische Interesse den Spaß einschränkt. Die archäologische Arbeit drängt das genuin Filmische nicht ins Abseits; der politische Ansatz lässt dem Vergnügen Raum.

Die Wiener Retrospektive wächst zu einem fast hundertstündigen Metafilm an, dem ein Kunststück glückt: Thesen und Material mögen immer wieder kollidieren, doch erst in der Kollision werden sie richtig plastisch.