Goliath die Zunge rausgestreckt

Das türkische Parlament lässt den Antrag auf US-Truppenstationierung scheitern. Das führt zu freudiger Eintracht zwischen Regierung und Volk

aus Istanbul DILEK ZAPTÇIOGLU

Als die türkischen Friedensbewegten in der Freitagnacht in langen Autokonvois nach Ankara zur Antikriegsdemonstration fuhren, machten sie sich keine großen Hoffnungen: Am Samstag sollte das türkische Parlament über die Stationierung von 62.000 US-Soldaten für den Irakkrieg entscheiden, und alles deutete darauf hin, dass es sich dem Druck aus Washington beugen würde. Noch am Freitag hatte Tayyip Erdogan, Chef der proislamischen Regierungspartei AKP, eine Stichwahl in seiner Fraktion veranstaltet. Nur 40 der 362 AKP-Abgeordneten sagten Nein zu den US-Forderungen. Ministerpräsident Abdullah Gül konnte dem US-Außenminister, der ihn nun zum zigsten Mal zu einem schnellen Ja drängte, am Telefon versichern: Keine Angst, Mr. Powell, der Beschluss geht durch.“

Es sah auch am Anfang ganz so aus. Nach einer nichtöffentlichen Sitzung stimmten die Abgeordneten ab: 264 dafür, 251 dagegen, 19 Enthaltungen. Washington holte eine fertige Presseerklärung aus der Schublade: „Wir begrüßen die mutige Haltung Ankaras“, stand darin und viel Lob für den strategischen Partner. Die Friedensbewegung schien die Schlacht verloren zu haben, resigniert machte man sich von der Großdemo, an der sich immerhin über 50.000 Menschen beteiligt hatten, auf den Heimweg.

Aber das Ja war eigentlich ein Nein. Artikel 92 der türkischen Verfassung verlangt eine einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen, und das hätten 268 statt 264 sein müssen. Parlamentspräsident Bülent Arinc, der führende Kopf der proislamischen AKP-Regierung, machte keinen Hehl aus seiner Freude über das parlamentarische Nein zum Krieg. Das Undenkbare war geschehen, David hatte Goliath die Zunge rausgestreckt und das Selbstvertrauen der Türken, die bitter über das Image der Käuflichkeit durch Washington klagten, wiederhergestellt. „Es lebe unser Parlament!“, hieß es auf spontanen Kundgebungen überall im Land, Kneipen füllten sich mit feiernden Mengen, Kemalisten und Islamisten, Kurden und Türken freuten sich gemeinsam.

In dieser Volksstimmung liegt das Geheimnis des parlamentarischen Neins. Lange Verhandlungen haben die Regierung und die Armee in den letzten Wochen mit den USA geführt. Sie umfassten „wirtschaftliche, politische und militärische Aspekte“ des kommenden Krieges, hieß es. Am Ende kam ein Punkt, an dem Washington keinen Schritt mehr von seiner Position zurückwich. Milliardenhilfe sollte es nur unter Aufsicht des IWF geben. Statt Erleichterungen für die Einfuhr türkischer Textilien schlugen die Amerikaner vor, ihre Armeeuniformen in der Türkei nähen zu lassen, wobei sie noch Stoff und Faden stellen wollten. Eine verbindliche Zusage zur Verhinderung eines unabhängigen Kurdenstaats war ausgeblieben. Die Forderung der Türkei, die nordirakischen Kurden selbst zu be- und entwaffnen, wurde abgelehnt. Schließlich kam die irakische Opposition in Nordirak statt – wie von der Türkei gewünscht – in Ankara zusammen, und die Vertreter der Turkmenen, durch die die Türkei Einfluss auf das politische Geschehen im Nachkriegsirak nehmen will, wurde außen vor gelassen. Washington wünschte offenbar auch keinen Einmarsch türkischer Soldaten mehr in das Kurdengebiet. Und schließlich lehnten die gläubigen Abgeordneten eine Zusammenarbeit mit den USA gegen Muslime aus tiefster Überzeugung ab. Am Freitag demonstrierte erstmals die Moscheengemeinde in Istanbul gegen den Krieg. „Geht nicht zu weit, unsere Geduld ist bald zu Ende!“, skandierten die islamischen Wähler.

Der Regierung wurde die Sache zu heiß. Sie wollte die politische Verantwortung für das Abenteuer Irakkrieg an die Militärs abschieben. Am Freitag tagte turnusgemäß der Nationale Sicherheitsrat. Von ihm wurde ein endgültiges Wort erwartet. Er schwieg. Es gab keine Empfehlung an die Legislative, kein einziges Zeichen des Generalstabs, dass die Abgeordneten diesen Antrag doch annehmen sollten. Der Ball war wieder bei der Regierungspartei gelandet.

Und die Abgeordneten ließen ihn nun fallen wie eine heiße Kartoffel. Sowohl Parteichef Erdogan als auch Premier Gül wirkten nicht wirklich unglücklich über das Scheitern ihres Antrags: „Alles geht seinen demokratischen Gang“, sagte Erdogan, und Gül warnte Saddam davor, es sich jetzt in Bagdad bequem zu machen. Gestern Nachmittag erklärte Erdogan dann, es werde „auf absehbare Zeit“ keinen neuen Antrag mehr über die Nutzung türkischen Bodens und Luftraums durch US-Militärs im Parlament geben.

Die Sache ist vorerst gelaufen. Die Türkei kann aufatmen: Den Krieg wird man zwar nicht verhindern können, hat ihn aber erheblich erschwert und fühlt sich vor allem frei von moralischer Mitschuld. Ayse Berktay, eine der Sprecherinnen der Friedensbewegung, freut sich: „Jetzt wollen wir sehen, wie die amerikanischen Schiffe, die vor unserem Hafen Iskenderun warten, schön ihren Arsch umkehren und wieder abziehen.“