Warten auf die Brotvermehrung

Die Speisung der fünftausend und der Überschuss: Philosophische Betrachtungen zur Grünen Woche, bei der sich heute und morgen wieder ganze Horden verfressener Berliner durch die Messehallen am Funkturm bewegen werden

Sie ist wieder da. Den Eintritt zu zahlen bedeutet, niederzuknien und zu glauben. Zu glauben, dass es in diesem postparadiesischen Park etwas gibt, was einen entschädigt. Die Schultern wie einen Bug voraus, durchquert der Besucher die Hallen, und seine Gesichtszüge sind dabei ebenso deutlich fixiert, wie sie entgleiten. Das kriegt nur ein einziger Affekt so hin: der Hungerneid.

Die Grüne Woche ist eine enzyklopädische Weltausstellung des Appetits. Morgens umgibt die Hinströmenden eine Aura der Gier. Und abends, betrunken, aggressiv, die Plastiktüten voller Zeugs, wieder in der U-Bahn, ein säuerlicher Zug der übersättigten Enttäuschung.

Dazwischen, zwischen Ankunft und Abfahrt, lässt man sich durch die Menge treiben, durch die bratgeruchpampige Luft. Es lässt sich darauf warten, dass es einen Überschuss gibt, der nur mir und den Meinen zuteil wird. Weil ich die richtigen Hebel kenne, weil ich bei der Verteilung in der richtigen Halle bin, weil mein reduzierter Bezug auf den Anderen im rechten Moment stattfindet und ich dann etwas bekomme: Pommes.

Die Grüne Woche ist das Phantasma einer Versorgung, die nicht von einem sozialen Ritual abhängt. Die Grüne Woche ist das Gegenteil des Gastmahls. Sie muss Enttäuschung hervorbringen. Es ist die Projektion auf eine Form der mehr oder minder geregelten Distribution, die, wenn alles gut geht, zu eigenen Gunsten ausfällt. Dazu singen Chöre. Dazu tanzen Landfrauen. Dazwischen rührt ein bäuerlicher Ernst zu Tränen. Quer treiben die Horden von Halle vier nach fünf. Es wird etwas verteilt.

Nehmen wir die Geburt des Staates aus der Freud’schen Urhorde. Die Urhorde bekam ihre Vor-Verfassung durch den Vatermord. Aber die Staatsgründung ist erst dann wirklich vollzogen, wenn ein Hordenmitglied die Distributivstelle besetzt und verteilt. Oder konserviert und vorenthält. Etymologisch geht der sakral-politische Begriff „The Lord“ auf die Bedeutung des Brotverwahrens zurück. Wer verwahrt das Brot?

In der biblischen Speisung der fünftausend fordert Jesus angesichts der Versorgungsängste der Jünger – „Wir haben kein Brot. Wo kaufen wir Brot?“ – mit unübertrefflicher Nonchalance und, wie ich mir vorstelle, leicht dandyhaft gelangweilt, fast melancholisch dazu auf, die Leute lagern zu lassen. „Lasst die Leute lagern.“ Er wehrt die panische Reaktion ab und vermehrt das Knappe. Eine soziale Manie wird stillgestellt. Und von den fünf Gerstenbroten und zwei Fischen sind am Ende, nach der Speisung der fünftausend, noch zwölf Körbe übrig. Was für ein Überschuss.

Das ist ein Wunder – natürlich. Es ist aber auch die Überbietung der Position des Brotvermehrers, des Lords. Wie etwas staatstragend distribuieren, was sich selbst vermehrt? Das mag eine Erklärung sein für die Enttäuschung, die so genau ablesbar ist von der Haltung der heimkehrenden Messebesucher. Das Brot hat sich nicht vermehrt. Schon wieder nicht. MONIKA RINCK