„Vernichten heißt doch nicht töten“

Einer der letzten großen Prozesse um Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze geht in die zweite Runde. Am ersten Tag bestreiten zwei Ex-Stasi-Offiziere jede Mitschuld am Tod des DDR-Dissidenten Michael Gartenschläger

Jetzt sind sie wieder gekommen: die alten Männer mit den Cordhüten und den grauen Freizeitblousons, den Verdruss über die Zeit im Gesicht. In den Prozesspausen stehen sie im Gerichtsflur zusammen wie ein kleiner Verein, schütteln sich die Hände, überbringen den Angeklagten „Grüße von den Freunden aus Marzahn“. Während der Verhandlung sitzen sie in geschlossenen Reihen hinten auf den Zuschauerbänken, beobachten verbissen, wie es zugeht heutzutage im neuen System, wo derzeit mal wieder geurteilt wird über ihr altes.

Es ist wohl einer der letzten großen Grenzprozesse nach der Wiedervereinigung, zu dem die alten Männer sich ins Landgericht aufmachen müssen. Angeklagt sind die beiden ehemaligen Stasi-Offiziere Helmut H. und Wolfgang S. Sie sollen für den Plan verantwortlich sein, nach dem vor knapp 27 Jahren DDR-Grenzsoldaten den Regimegegner Michael Gartenschläger erschossen haben.

Gartenschläger war für den Osten ein Störenfried. Die Bundesrepublik hatte ihn nach fast zehnjähriger DDR-Haft freigekauft, er lebte im Westen. In der Nacht zum 1. Mai 1976 wollte er an der Grenze von Schleswig-Holstein und Mecklenburg eine Selbstschussanlage demontieren. Dies war ihm vorher bereits zwei Mal gelungen, und Gartenschläger hatte damit weltweites Aufsehen erregt. Er hatte die DDR blamiert, die lange bestritten hatte, solche Anlagen aufgestellt zu haben. Der ehemalige Stasi-Chef Erich Mielke hat die Festnahme Gartenschlägers verlangt, sagt der Staatsanwalt heute. Die Angeklagten hätten an einem Plan mitgewirkt, Gartenschläger „festnehmen oder vernichten“ zu lassen. Als der 32-Jährige bereits von Kugeln getroffen am Boden lag, sei weitergeschossen worden, so steht es in der Anklage.

Helmut H. und Wolfgang S. widersprechen. „Der Vorwurf des Totschlags trifft nicht zu“, meinte der 70-jährige H. gestern. „Ich bin nicht der geistige Vater des Plans“, so der 61-jährige S. Sie haben diese Sätze schon oft gesagt. Bereits im vorigen Jahr war ein Verfahren gegen die beiden Ex-Stasi-Offiziere gescheitert. Wegen der Erkrankung eines Richters war die Verhandlung abgebrochen worden. Zur Neuaufnahme haben sich die Beschuldigten keine neuen Erklärungen überlegt: Die Entscheidung sei auf zentraler Ebene gefallen, betonen beide. Ziel sei die Festnahme Gartenschlägers gewesen, man wollte ihn als Informationsquelle nutzen. „Und ‚Vernichten‘ ist ein Wort aus dem Militärjargon, es heißt nicht töten“, fügt S. hinzu.

Die alten Männer mit den Cordhüten sehen das genauso. In den Pausen auf dem Flur stoßen sie sich zuversichtlich gegenseitig die Ellenbogen in die Rippen. Drei der Schützen von 1976 hat das Landgericht Schwerin vor drei Jahren freigesprochen. Es konnte nicht geklärt werden, ob sie nicht aus Notwehr auf Gartenschäger geschossen hatten, so die Richter. Eine Entscheidung, die es der Berliner Staatsanwaltschaft derzeit nicht einfacher macht. „Ich soll also einen Totschlag erwirkt haben, den es nach dem Schweriner Urteil gar nicht gibt!“, erregt sich der Angeklagte S. im Gerichtssaal. Die Alten auf den Zuschauerbänken lehnten sich gespannt nach vorn. Morgen wird der Prozess fortgesetzt. KIRSTEN KÜPPERS