Jenseits ritualisierten Gedenkens

Unprätentiöser und nachhaltiger zur Erinnerung anregen als Mahnmale: Eine Ausstellung und eine Installation von Karin Guth dokumentieren den nationalsozialistischen Völkermord an den Hamburger Sinti und Roma

Der Zeitpunkt ist Zufall. Kurz nach der Ausstellung ihres Erinnerungsprojekts „Bornstraße 22“ vor zwei Jahren hat Karin Guth begonnen, zu den Folgen zu recherchieren, die der nationalsozialistische Rassismus für die in Hamburg lebenden Sinti und Roma gehabt hat. Damals konnte sie nicht ahnen, dass pünktlich zur Präsentation der Ergebnisse ein Spiegel-Dossier einmal mehr einen Streit zwischen den verschiedenen Opfergruppen des NS herbeireden würde, ohne jeden äußeren Anlass. Deshalb passt der Termin jetzt ganz gut. Denn mit einem Projekt wie diesem lässt sich ganz unprätentiös zur Erinnerung anregen. Und statt einen Wettstreit der unterschiedlichen verfolgten Gruppen im NS zu beschwören, wird einfach am Beispiel einer dieser Gruppen ein Stück Geschichte rekonstruierbar gemacht.

Karin Guth, Initiatorin und alleinige Organisatorin des Projekts, setzt mit der Installation „Die nationalsozialistische Verfolgung Hamburger Sinti und Roma“ das künstlerisch-dokumentarische Verfahren fort, mit dem sie bereits an diejenigen Hamburger Juden erinnert hat, die zwangsweise in dem von den Nazis Judenhaus genannten Gebäude in der Bornstraße untergebracht waren, bevor sie in die Lager des Ostens deportiert wurden. Ähnlich wie damals hat Guth aus intensiven Interviews mit Überlebenden ein Stück Hamburger Geschichte destilliert.

Die Installation ist ausdrücklich zum Betreten und zum Anfassen gedacht. Eine hohe Wand trennt die zweigliedrige Einrichtung. Auf ihrer einen Seite hat Guth vor Blümchentapete zwei grüne Sitzmöbel um einen Tisch gruppiert, auf ihm ein paar Fotoalben. In ihnen sind die biografischen Geschichten einzelner Hamburger Sinti – damals lebten kaum Roma in Hamburg – zu betrachten. Den Text hat sie zwischen erstaunlich vielen privaten Fotos aus mehreren Jahrzehnten Lebenszeit aufs Transparentpapier der Alben gedruckt. Die anheimelnde Atmosphäre wird nachhaltig gebrochen durch den Tapetenaufdruck: Eintragungen aus den Deportationslisten.

Bereits im Mai 1940, lange vor der ersten Deportation jüdischer Hamburger, ging ein Transport mit dem Großteil norddeutscher Sinti und Roma nach Polen. Den Seitenaufdrucken der Wand lassen sich die groben Fakten der Verfolgung und Vernichtung entnehmen, aber auch Fälle einer fortgesetzten Diskriminierung und Gängelung derjenigen, die aus den Lagern heimkehren konnten, durch Hamburger Beamte und britische Besatzungsorgane.

Auf der gegenüberliegenden Seite der Wand hat Guth einen „Täterraum“ reinszeniert. An einem Schreibtisch lassen sich in dicken Ordnern die Erlasse, Behördenschreiben und Namenslisten einsehen, die für die als “Zigeuner“ stigmatisierten Menschen aus Hamburg so folgenschwer gewesen sind. Hier zieren Fotos von Polizeikollegen und Schäferhunden die Wand. Weil sie die zeitgenössischen Dokumente und ihre Sprache nicht unkommentiert lassen wollte, hat Guth sie abschnittweise kritisch zusammengefasst.

Diesmal hat Guth ihre Erinnerungsinstallation mit einer großen Ausstellung gerahmt. Denn über die Deportationen, den Einsatz als Zwangsarbeiter und die Ermordung von insgesamt 500.000 europäischen Roma und Sinti ist – anders als über diejenige der Juden – bis heute wenig bekannt. Zur Verfügung gestellt hat die Stellwände über den Völkermord das Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Roma und Sinti. Zu sehen ist beides seit dem vergangenen Freitag im Leo-Lippmann-Saal der Finanzbehörde am Gänsemarkt. JANA BABENDERERDE

Ausstellung: Mo–Fr 10–18 Uhr, Sa + So 12–18 Uhr, Leo-Lippmann-Saal, Finanzbehörde, Gänsemarkt 36, bis 8.2.; Vortrag von Wolfgang Wippermann, „Die Sinti und Roma im nationalsozialistischen Vernichtungskrieg“: Sa, 17.1., 16 Uhr, Ausstellungsraum; Film „Ein einzelner Mord“ (über die Ermordung von Anton Reinhardt): So, 18.1., 19 Uhr, Metropolis; weitere Filme und Veranstaltungen siehe Flyer