Ein Tick zu laut

Zum Wasser drängt es: In „Martha … Martha“ zeichnet Sandrine Veysset das beunruhigende Porträt einer Frau, die schreckliche Geschichten wie Witze erzählt

Am Anfang steht der Besuch bei den Eltern. Keine leichte Übung, wie fast jeder aus Erfahrung weiß. Die Beklemmung, die in der ländlichen Stube zwischen Vater, Mutter und Tochter herrscht, lässt sich fast schon mit Händen greifen. Lange war Martha nicht mehr hier, sie erzählt, dass sie eine sechsjährige Tochter hat. Die Eltern reagieren kaum darauf, scheinen sie gar nicht richtig wahrzunehmen. Irgendwann merkt Martha, dass ihre Mutter in ihr nur ihre Schwester Marie sehen will. „Ich bin Martha … Martha!“, schreit sie sie mit einer Verzweiflung an, die erkennen lässt, dass in dieser Familie etwas vorgefallen ist: Es ist nicht vergessen, kein bisschen, aber darüber zu reden, das geht auch nicht.

Eigentlich klingt es ja mehr wie ein Komödientitel: „Martha … Martha“. Das exzentrische Moment in Sandrine Veyssets Film geht aber ganz und gar auf schmerzliche Erfahrungen zurück. Martha nämlich, die zu Beginn so offensiv auf ihrem Namen und ihrer Identität besteht, verliert zunehmend ihr Gleichgewicht. Es ist, als würde sie nach Jahren von einer Vergangenheit eingeholt, die sie bis dahin in trotziger Selbstbehauptung abwehren konnte.

Zuerst sehen wir sie noch als fröhliche, lebenshungrige junge Mutter, die mit ihrem Freund und Lebensgefährten eine bescheidene und ungebundene Existenz auf den Flohmärkten irgendwo im Süden Frankreichs bestreitet. Schön, offen und temperamentvoll, wie sie auf den ersten Blick wirkt, nimmt sie ihre Umgebung schnell für sich ein. Und löst im nächsten Augenblick schon wieder Unbehagen aus, verstört die Menschen, die sich ihr gerade zuwenden. Sie spricht einen Tick zu laut, ein paar Worte zu viel, benimmt sich ein ganz klein wenig daneben. Eine schreckliche Geschichte erzählt sie so, als sei es ein Witz. Man zeigt ihr den Vogel.

Ihr Freund Reymond und ihre kleine Tochter bilden lange Zeit einen dünnen Schutzschild gegen die Außenwelt, die so leicht missversteht. Als sie an einer entscheidenden Stelle versagen – mehr aus Erschöpfung als aus Unwillen – gerät Marthas Verhältnis zur Welt vollends aus dem Lot.

Veyssets Film benennt keine Ursachen für diesen Selbstverlust; er erzählt in dichter, atmosphärischer Beschreibung vom langen Nachhall familiärer Traumata und deren schleichender Materialisierung in geistiger Krankheit.

Was genau passiert ist, erfahren wir allerdings nie. Im Verlauf des Films setzt sich ein verschwommenes Bild zusammen: Der kleine Bruder von Marie und Martha ist früh ums Leben gekommen, und sowohl die Mutter als auch die Schwester scheinen Martha an dessen Unfalltod die Schuld zu geben. Er sei in ihren Armen gestorben, sagt sie selbst an einer Stelle. Einmal baden sie, Reymond und die kleine Tochter an einem See. Für kurze Zeit lässt sie die Kleine aus den Augen, die daraufhin fast verunglückt. Irgendetwas an Reymonds Reaktion, der sie gerade noch retten kann, verrät, dass sich so etwas Ähnliches schon einmal ereignet haben muss.

Wasser in vielerlei Formen bildet denn auch eine Art Leitmotiv des Films. Als Reymond in einem letzten Versuch, seiner rastlosen Freundin Seelenfrieden zu verschaffen, Martha am Ende zu einer weit abgelegenen Wassermühle bringt, schwillt die Menge an Wasser bedrohlich an: Ohrenbetäubend umtost der kleine Fluss das alte Haus und erstickt jedes Wort. Veyssets Film erklärt nichts; die große Kunst der Regisseurin, die vor ein paar Jahren mit ihrem Erstling „Wird es an Weihnachten Schnee geben?“ Aufsehen erregt hat, besteht darin, in einfachsten Bildern emotionale Spannung zu erzeugen. Auf den ersten Blick scheint alles mit leichter Hand aufgenommen, im filmischen Zusammenhang ergeben die alltäglichen Verrichtungen das mitreißende Porträt einer Seelenlandschaft.

BARBARA SCHWEITZERHOF

„Martha … Martha“. Regie: Sandrine Veysset. Mit Valérie Donzelli, Yann Goven, Lucie Regnier u. a. Frankreich 2001. 97 Min.