Die Wiederkehr des Karl Marx

Lange ward er verpönt, doch die Finanzkrise beschert dem Erfinder des Sozialismus ein Comeback. An etwa 30 Universitäten lässt ein Hochschulverband aus seinem Werk lesen. Der Andrang ist riesig

AUS BERLIN TIEMO RINK

„Seit Jahren laufe ich als rote Socke herum und habe das Kapital trotzdem nie verstanden“, gesteht ein Zuhörer in der ersten Reihe. Während die Weltwirtschaft seit Wochen am Rande der Rezession steht, feiert im Hörsaal 1001 der Berliner Humboldt-Universität am Donnerstagabend ein alter Klassiker sein Comeback: der Marx-Lesekreis.

Zum Beginn des Wintersemesters startet der Sozialistisch-Demokratische Studierendenverband (SDS) der Linkspartei in 31 Städten mit Lesekreisen zum „Kapital“, dem Hauptwerk von Karl Marx. Obwohl die Hochschulgruppe ihre Aktion seit Monaten vorbereitet und prominente linke Wissenschaftler als Unterstützer gewonnen hat – ohne die Finanzkrise wäre der Publikumsandrang wohl wesentlich geringer.

So jedoch platzt der Hörsaal am Donnerstag aus allen Nähten. Mehrere hundert Studenten drängen in den Raum, sitzen in den Gängen, stehen auf der Empore. „Über 2.000 im ganzen Bundesgebiet“ sollen es nach den Angaben einer SDS-Sprecherin sein, die die Auftaktveranstaltungen in dieser Woche besucht haben. Das Ambiente im Hörsaal ist dabei geradezu klassisch. „Die letzte Schlacht gewinnen wir“ steht in fetten weißen Lettern auf einem roten Transparent, das von der Empore hängt. „Sozialismus oder Barbarei“ prangt es von einem anderen Banner auf der gegenüberliegenden Seite. Dazu jede Menge rote Sterne, geballte Fäuste, Bilder demonstrierender Arbeiter – und natürlich Karl Marx.

In den letzten Jahren sei der Vordenker des Kommunismus an den Universitäten fast nur noch „als Fußnote der Geschichte“ behandelt worden, sagt eine SDS-Frau in ihrer Begrüßungsrede. Damit soll Schluss sein. Der Marx des Jahres 2008 guckt trotzig von den Plakaten des SDS und trägt ein schwarzes Baseball-Cap. Ein missglückter Versuch, die propagierte Aktualität von Marx auch im Kleidungsstil abzubilden.

„Das ,Kapital‘ ist heute moderner als je zuvor“, meint der Politologe Michael Heinrich, der an diesem Abend als Gastredner eingeladen ist. Noch vor wenigen Jahren, erinnert sich der Marx-Experte, sei er wegen seiner Forschungsansätze belächelt worden. Daran habe sich inzwischen etwas geändert. Die Genugtuung ist Heinrich anzusehen, wenn er feststellt, dass mittlerweile sogar neoliberale Ökonomen wie Hans-Werner Sinn vom Münchener Ifo-Institut einräumen müssten, die Finanzkrise sei Ausdruck eines „anonymen Systemfehlers“. „Ausgerechnet diese Leute, die jahrelang behauptet haben, dass der freie Markt überhaupt keine Fehler haben kann“, stichelt Heinrich zur Begeisterung des Publikums.

Dabei ist der Anspruch der Linken in der Humboldt-Uni insgesamt eher moderat. „Marx liefert nur Werkzeuge zum Verständnis der Gesellschaft“, meint der Politologe. Analysieren müsse man schon selber. Beispielsweise, warum es unsinnig sei, Bankmanagern im Kapitalismus ausgerechnet ihr Streben nach Profitmaximierung vorzuwerfen.

Profitieren vom neu erwachten Interesse an Marx tut auch Jörn Schütrumpf, Geschäftsführer des Karl-Dietz-Verlags. Schütrumpf verlegt das „Kapital“ – und ist beinahe ausverkauft. In den letzten zwei Jahren haben sich die Verkaufszahlen des Klassikers praktisch verdreifacht, sagt der Verleger im Gespräch mit der taz. Jede Krise hat auch Gewinner – Schütrumpf ist einer von ihnen. Dabei steht für ihn fest: „Wir reden hier über Randgruppen. Einige Menschen suchen ihr Heil auf irgendwelchen Kirchentagen. Wer aber klüger ist, fängt an, kritisch über die Gesellschaft nachzudenken und schaut dazu bei Marx nach.“