Der bezaubernde Herr Riemann

Werner Riemann, von Beruf Schauspieler, wird in diesen Tagen 70 Jahre alt. Damit ist der gelernte Fachdrogist das dienstälteste Mitglied des Berliner Ensembles. Einst sprach er vor Bertolt Brecht vor, und bei seinem ersten Auftritt stieß er sich beim Abgang die Nase. Rückschau auf ein Theaterleben

VON CORINNA STEGEMANN

Sein Name ist Riemann. Werner Riemann. Am Sonntag wird er 70 Jahre alt, aber er sieht aus wie ein junger Spund von höchstens 60 Jahren und er behauptet oft, er sei schon 80 Jahre alt, denn er hört den Satz „Aber das sieht man Ihnen wirklich nicht an“ sehr gerne: „So ein kleines Lob versüßt einem doch den ganzen Tag.“ An seinem Geburtstag ist er 45 Jahre lang Mitglied beim Berliner Ensemble, nur kurz war er zwischenzeitlich auswärts engagiert, drei Jahre lang. Am 25. Januar 1956 stand er zusammen mit fünf anderen Bewerbern oben auf der Bühne des Theaters am Schiffbauerdamm und sprach für ein Engagement als Kleindarsteller für Bertolt Brechts „Das Leben des Galilei“ vor. Unten, vor der Bühne, saßen Brecht und dessen Frau Helene Weigel, die Intendantin des Hauses.

„Und dann hörte ich nur einen Satzfetzen von unten. Es war die Stimme vom Brecht, mit diesem ganz eigenen Krächzen: ‚… der Rothaarige…‘, mehr hörte ich nicht. Ich guckte mir so unauffällig wie möglich meine Mitbewerber an, aber da war kein anderer Rothaariger, Brecht musste also mich gemeint haben. Da wusste ich: Ich bin dabei!“

Ja, und seitdem ist er dabei, der freundliche Herr Riemann mit den immer noch roten Haaren, dem das Unmögliche gelungen ist: sich in 45 Jahren nicht mit einem einzigen Intendanten oder Regisseur ernsthaft zu verkrachen. Und das, obwohl er nicht nur als Schauspieler dort arbeitete, sondern seit 1970 auch als Regieassistent bei rund 35 Inszenierungen. „Wenn mir mal wirklich fast der Kragen platzte, dann bin ich einfach kurz rausgegangen. Und dann wieder rein. Meistens haben wir uns später bei einem Bier in der Kantine wieder vertragen.“

Eigentlich ist Herr Riemann gelernter Fachdrogist. Die Drogerie in der Stalinallee, heute Karl-Marx-Allee, bei der er von 1954 bis 1956 hauptberuflich arbeitete, wurde häufig von Künstlern und Schauspielern aufgesucht. Dort lernte er 1955 die Schauspielerin Marga Legal kennen, die ihn klasse fand und zu einem Vorstellungsgespräch zum Maxim-Gorki-Theater schickte.

„Ich kam da an und dachte: Ja, da werden sicher hunderte sein, die auch gern Kleindarsteller am Maxim-Gorki-Theater werden wollen. Ich suchte nach dem Kleindarsteller-Verwalter und jemand rief tatsächlich meinen Namen. Eine Dame fragte: ‚Sind Sie Herr Riemann? Sie müssen auf die Bühne!‘ Ich sagte: ‚Nein, nein, ich soll mich doch nur vorstellen.‘ Aber es war wohl jemand ausgefallen. Mir wurde kurz erzählt, was ich machen sollte, und dann wurde ich mit einem Kettenhemd und einer Lanze auf die Bühne geschickt und musste dort mit zitternden Händen drei Minuten stehen. Das kam mir wie drei Stunden vor! Beim Abgang im Dunkeln stieß ich mir die Nase an einer Wand. Das war mein erster Bühnenauftritt.“

Es war der erste von vielen, vielen Bühnenauftritten als Kleindarsteller. Zunächst am Maxim-Gorki-Theater, aber schon nach einem Jahr bewarb er sich 1956 am Berliner Ensemble, wo es zur geschilderten Vorsprechszene vor Herrn Brecht und Frau Weigel kam.

„Und dann hatte ich plötzlich drei Jobs: am Maxim-Gorki-Theater, am Berliner Ensemble und natürlich tagsüber auch noch meinen eigentlichen Job in der Drogerie. Das wurde auf Dauer recht anstrengend, zumal ich anfangs nicht bedacht hatte, dass man für die Theaterarbeit ja auch ab und zu tagsüber proben muss.“

Die Arbeit mit Bertolt Brecht zu „Das Leben des Galilei“ dauerte nur ein halbes Jahr, weil Brecht während der Probenarbeiten starb. Erich Engel führte die Proben fort und brachte das Stück zur Aufführung. Und natürlich kamen noch andere Proben zu anderen Stücken danach, und irgendwann war es so weit, dass Herr Riemann sich entscheiden musste: Theater oder Drogerie?

„Man gab mir etwas Bedenkzeit – aber die war eigentlich gar nicht notwendig.“

Herr Riemann kündigte bei der Drogerie und arbeitete ab 1957 nur noch für das Berliner Ensemble. Schon vorher hatte er nebenbei angefangen, privaten Schauspielunterricht zu nehmen, und nach fünf Jahren bestand er 1961 seine Schauspielprüfung vor der Paritätischen Prüfungskommission. Von 1960 bis 1963 wechselte Herr Riemann zwar kurz nacheinander, weil er auch gern mal andere Häuser kennen lernen wollte, zum Staatlichen Dorftheater Prenzlau und zum Staatstheater Dresden, aber er musste aus familiären Gründen zurück nach Berlin und wurde auch am Berliner Ensemble wieder aufgenommen.

Und dort hat Herr Riemann viele große, berühmte Leute kommen und gehen sehen: Brecht, Weigel, dann Ruth Berghaus, die noch von Helene Weigel eingesetzt wurde, und schließlich „Das Fünferkollektiv“ Matthias Langhoff, Fritz Marquardt, Heiner Müller, Peter Palitzsch und Peter Zadek.

„Es war eigentlich von Anfang an abzusehen, dass das mit den fünf Künstlern an der Spitze, die alle gleichberechtigt bestimmen wollten, nicht sehr lange gut gehen würde. So verschiedene Menschen … Die Idee war gut, sie hofften ja, dass sie sich, gerade weil sie so verschieden waren, optimal ergänzen und inspirieren würden. Das war sicher auch eine Weile so, aber auf Dauer eben doch zu aufreibend.“

Heute ist Herr Riemann eigentlich pensioniert, aber er macht regelmäßig Führungen durch das Theater am Schiffbauerdamm. „In diese Aufgabe habe ich mich ein bisschen verliebt“, sagt er.

Man merkt es, Herr Riemann scheint alles zu wissen und jeden Stein zu kennen. Er führt die Besucher durch das ganze Haus: auf Bühnen und Probebühnen, in Technikräume, durch die Garderoben, hinauf in das berühmte Brechtzimmer, hinunter in den Keller. Dabei verquickt er fesselnd Sachinformationen über die Geschichte des Gebäudes mit Geschichten aus seiner eigenen Vergangenheit. Während er zum Beispiel die Gipsmasken an einer Wand des Brechtzimmers erklärt, lässt er beiläufig einfließen, dass ein Teil der Besucher gerade auf der hölzernen „Büßerbank“ sitzt, auf der sich früher so mancher einen Rüffel von der Weigel erteilen lassen musste – man fühlt sich gleich etwas unwohl. Er erklärt, was es mit Logen, Ornamenten, Treppengeländern und Teppichböden für eine Bewandtnis hat – und das mit so viel Esprit und Herzblut, dass man all diesen Dingen plötzlich höflich „Guten Tag“ sagen möchte.

Zwischendurch erzählt er von Kantinenfesten, bei denen Ruth Berghaus auf dem Tisch tanzte, oder Anekdoten über kleine Pannen während der Vorstellungen. Wie jener zum Beispiel, als er bei einer Mutter-Courage-Aufführung plötzlich unvorhergesehen als alte Bäuerin aus einem brennenden Haus gezogen werden musste. Die eigentliche Darstellerin war gerade nicht aufzutreiben und man konnte unter seinem hastig übergeworfenen Bäuerin-Kostüm noch eine Militäruniform aus einer anderen Szene sehen. Dann wieder klettert man mit ihm unter die große Drehbühne und bestaunt das außergewöhnliche Zusammenspiel zwischen ausrangierten Panzerrädern aus dem Zweiten Weltkrieg und gegenwärtiger Theatertechnik.

Und zuweilen verteilt Herr Riemann sogar Bonbons, die garantiert aus dem Nachlass von Bertolt Brecht sind – und die schmecken trotzdem noch!