„Eine Regelschule für alle ist nicht mein Programm“

Senator Klaus Böger (SPD) bezeichnet sein neues Schulgesetz als außerordentliche Umgestaltung. Doch die dreigliedrige Struktur will er nicht antasten. Özcan Mutlu (Grüne) bedauert dieses Tabu. Mieke Senftleben (FDP) hält Schulgleicheit für unerreichar und will mehr Wettbewerb. Ein Streitgespräch

MODERATION CHRISTIAN FÜLLER
UND ANNA LEHMANN

taz: Warum ist die Berliner Bildungspolitik eigentlich so kleinmütig?

Klaus Böger (SPD): Ich teile Ihre Bewertung nicht. Die Berliner Bildungspolitik formuliert die am weitesten gehende gesetzliche Replik auf die Defizite, die die internationale Schulstudie für Deutschland ergeben hat.

Mieke Senftleben (FDP): Einspruch. Ihre Politik ist kleinmütig. Die Schule der Zukunft braucht mehr Eigenverantwortung. Und Sie springen zu kurz bei der konsequenten Förderung von Kindern mit nichtdeutschem Hintergrund.

Özcan Mutlu (Grüne): Auch wir vermissen den Mut. Berlin hat die Chance verpasst, nach Pisa und Bärenstark andere Wege zu gehen.

Was meinen Sie damit?

Mutlu: Man kann vielleicht nicht von heute auf morgen die Schulstruktur verändern …

also das frühe Aufteilen der Schüler in Hauptschule, Realschule und Gymnasium …

Mutlu: … aber man hätte von diesem Gesetz viel mehr erwarten können: das Sitzenbleiben abzuschaffen, den Umgang mit heterogenen Lerngruppen zu verbessern und die dreigliedrige Schule schrittweise zusammenzuführen.

In keiner deutschen Stadt ist die Bildungssituation so gut analysiert und dokumentiert wie hier in Berlin – als Krise der Fundamente. Warum ist darauf keine gemeinsame, parteiübergreifende Reaktion möglich?

Senftleben: Jede Partei stellt ihre eigenen Modelle zur Wahl, das ist doch klar. Das Entscheidende nach Pisa ist, dass die Verantwortlichen begriffen haben, dass die erste Phase zwischen dem ersten und dem sechsten Lebensjahr die entscheidende für die Bildungslaufbahn unserer Kinder ist. Wir haben es jahrelang verpennt, die Motivations- und Aufnahmefähigkeit der ersten sechs Jahre positiv zu nutzen.

Böger: Aber damit haben wir doch längst begonnen, Frau Senftleben. In Berlin entschiedener als anderswo. Nennen Sie mir ein Land der Bundesrepublik, in dem die Kinder mit fünfeinhalb Jahren eingeschult werden.

Herr Böger, warum ist die frühere Einschulung eine Antwort auf Pisa?

Böger: Weil Pisa gezeigt hat, dass man zu einem früheren Zeitpunkt als jetzt Sprachkompetenzen und spielerisches Erfassen von Lerninhalten vermitteln muss. In der Stadt gibt es viele bildungsbenachteiligte Familien – also muss man früh intervenieren und Bildungsdefizite ausgleichen.

Senftleben: Deshalb fordert die FDP eine verbindliche Vorklasse, die so genannte Startklasse, schon im Alter von fünf Jahren.

Böger: Jetzt werden die Kinder mit fünfeinhalb eingeschult. Auf Antrag der Eltern könnten die Kinder sogar ein weiteres Vierteljahr früher in die Schule gehen.

Mutlu: Ich bin der Meinung, dass Sie immer nur halbe Schritte tun.

Machen Sie mal einen ganzen.

Mutlu: Wir müssen wegkommen von der Floskel, die Kita sei Bildungseinrichtung; wir müssen sie auch zu einer solchen machen. Nehmen Sie die Sprachförderung. Berlin hat im vergangenen Jahr flächendeckende Sprachtests, so genannte Bärenstark-Tests durchgeführt …

Böger: … was meine Entscheidung war.

Mutlu: Gut, aber was haben wir davon? Wir wissen nun, dass nahezu zwei Drittel der SchülerInnen einen immensen Rückstand bei der Sprachentwicklung aufweisen. 12.000 SchülerInnen sind nicht in der Lage, dem Unterricht der ersten Klasse zu folgen. Und jetzt sprechen Sie von zusätzlicher Förderung – stellen aber keinerlei Mittel dafür in den Kitas oder Schulen bereit. Qualitätsverbesserungen gibt es nicht zum Nulltarif.

Böger: Wir schaffen 630 zusätzliche Stellen, um die frühere Einschulung personell auszustatten. Das ist sehr viel mehr als nichts. In der Frage, wie Kindergärten zu Bildungseinrichtungen werden, kann ich Ihnen nur zustimmen. Das ist ein Prozess, bei dem wir erste Schritte unternehmen. Ich habe z. B. die Fortbildung für die Kitas verdoppelt und die Erzieherausbildung verändert.

Herr Böger, die Grünen stellen die Strukturfrage.

Böger: Sie können nicht die Struktur der dreigliedrigen Schule zur hauptsächlichen Fehlerquelle unserer Bildung erklären. Das ist nicht seriös.

Sie hätten die Gelegenheit, wenigstens Zwischenschritte hin zu einer Schule für alle zu machen. Indem Sie etwa die sechjährige Grundschule stärken. Stattdessen erlauben Sie den Lehrern, bereits in der 5. und 6. Klasse mit der unseligen Vorsortierung der Schüler zu beginnen.

Böger: Ergibt sich denn aus Pisa überhaupt zwingend, dass die Gesamtschule das ideale Modell ist? Nein, das ist empirisch falsch. In Finnland, dem Siegerland, gibt es Gesamtschulen, Italien hat das gleiche System – und liegt ganz weit hinten. Wenn Sie eine Regelschule für alle von eins bis neun wollen, bitte sehr. Mein aktuelles politisches Programm ist das nicht.

Mutlu: In Deutschland ist eine Diskussion um die dreigliedrige Schulstruktur leider ein Tabu. Sie nehmen das einfach so hin, Herr Böger. Alles, was Sie tun, ist, auf dem Papier einen neuen Schultyp, die verbundene Haupt- und Realschule, zu schaffen. Das Gebot der Stunde heißt doch, dass die Schulen ihre Bildungsgänge auch pädagogisch verbinden. Der Senator hat lediglich die zwei Schultypen organisatorisch zusammengelegt und manifestiert damit das dreigliedrige Schulsystem.

Böger: Ich bleibe dabei: Jetzt eine Debatte über die Struktur der Schule in Deutschland zu führen wäre völlig falsch. Sie lenkt unsere Kräfte ab von der notwendigen Qualitätsverbesserung.

Sind Sie denn mit verbundenen Augen durch Finnland gelaufen? Wenn Sie in der fünften und sechsten Klasse eine andere Unterrichtskultur möchten, dann müssen sie als Erstes das schlechte alte deutsche Selektionswesen abschaffen. Der Witz ist, die Kinder zusammenzulassen – dann müssen die Lehrer ihren Unterricht anders aufziehen.

Böger: Nein, mit offenen Augen. Pisa zeigt uns, dass wir mit Heterogenität besser umgehen müssen, das heißt Starke und Schwache fördern. Eine Differenzierung in der fünften und sechsten Klasse wird überdies durch die Schulzeitverkürzung auf 12 Jahre notwendig.

In Finnland werden Kinder, die hintendran sind, höchstens zeitweise aus der Klasse herausgenommen. Das wären zum Beispiel jene Kinder, die Sie mit dem Bärenstark-Test als Nachzügler definiert haben. Dazu kommt, innerhalb des Klassenverbandes, die individuelle Förderung. Warum nehmen Sie sich das nicht zum Vorbild, Herr Böger?

Böger: Das können wir nicht, denn Finnland steht nicht ansatzweise vor den sozialen Problemen wie Berlin.

Mutlu: Das ist ein Märchen. Schauen Sie auf einen anderen Pisa-Spitzenreiter: Schweden. Stockholm hat dieselben Probleme wie wir. Trotzdem herrscht dort eine ganz andere Lernkultur, es gibt Sprachlernzentren, in denen die Kinder gezielt gefördert werden. Die Lernkultur zu verbessern aber hieße, das Abschieben der vermeintlichen falschen Schüler zum Beispiel in Hauptschulen zu beenden.

Böger: Die gezielte Förderung von starken Schülern in der fünften und sechsten Klasse heißt doch nicht, dass die Klassenverbände auseinander gerissen werden. Es gibt im Übrigen keine repräsentativen Ergebnisse über die Leistungsfähigkeit unserer jetzigen Grundschule.

Mutlu: Das stimmt nicht. Wir wissen seit der Iglu-Grundschulstudie, dass gemeinsames Lernen die richtige Form ist. Mein Fazit lautet: Länger gemeinsam lernen.

Senftleben: Aber meine Herren, es geht doch primär darum: Wie können wir besser werden? Die Gesamtschule ist da doch wohl keine Alternative. Ich finde, dass eine ganz andere Frage viel bedeutsamer ist für die Qualität der Schule.

Lassen Sie uns raten: Die FDP fordert mehr Autonomie?

Senftleben: Ja, Freiheit für die Schulen. Schauen Sie sich die Waldorfschulen an, die bieten zehn durchgängige Klassen an – in freier Trägerschaft. Da kann man sehr gut erkennen, wie weit Eigenverantwortung auch im pädagogischen Bereich führen kann. Wieso muss der Staat festlegen, wie etwas zu funktionieren hat? Die einzelne Schule soll das selbst bestimmen. Der Schulleiter muss die Lehrer einstellen können. Mehr Eigenverantwortung wird unsere Schulen qualitativ verbessern.

Einige Schulen werden dadurch besser, andere nicht. Wird das die Chancengleichheit der Schüler verbessern?

Senftleben: Ich spreche lieber von Chancengerechtigkeit. Über mehr Eigenverantwortung bekommen wir mehr Wettbewerb und mehr gute Schulen. Aber nie werden alle Schulen gleich gut sein. Von diesem Ideal sind wir zurzeit meilenweit entfernt.

Also, Herr Böger, warum geben Sie den Schulen nicht mehr Eigenständigkeit?

Böger: Aber das mache ich doch. Die Schulen erhalten Verantwortung für ihr Sach- und teilweise auch für ihr Personalbudget. Sie könne auch über ihre Fächeranordnung selbstständig entscheiden. Wir beginnen gerade mit dem Prozess, wie die einzelne Schule Auswahlkriterien für die Einstellung ihrer Lehrer formulieren kann – und dann auch daran mitwirkt.

Wann wird das so weit sein?

Böger: Das wird erstmals im Schuljahr 2005/6 möglich sein. Dann sollen auch fast 1.300 neue Lehrkräfte eingestellt werden, schwerpunktmäßig in die Grundschule. Alle Schulleiter, mit denen ich gesprochen habe, haben gesagt, das Gesetz biete ein hervorragende Grundlage. Nur – das kommt eben einer kulturellen Revolution gleich, die Zeit braucht.

Mutlu: Sie haben diese Woche 400 Referendariatsstellen gekürzt, und die 8 Schulen, die bei der Personalmittelbudgetierung mitmachen, bekommen ihr Geld nicht. Eigenverantwortung heißt mehr als Mangelverwaltung.

Herr Böger, Sie sind der Pisa-Weltmeister des großen Wortes. Nach der Studie liegt das deutsche Bildungswesen weit hinten, Ihnen zufolge ist Berlin Spitze. Erläutern Sie doch mal bitte: Was bezwecken Sie mit Ihrer Großsprecherei?

Böger: Das ist keine Großsprecherei, sondern wir ziehen die Konsequenzen aus Pisa. Ich meine damit einen Umgestaltungsprozess in der Berliner Bildungslandschaft, der außerordentlich ist. Es ist komplett neu, Qualitätsmaßstäbe für Schulen zu definieren, zu akzeptieren und durch Vergleichstests ständig zu kontrollieren. Das ist eine dramatische Veränderung für den Unterrichtsprozess.

Wir sehen schon, dass die Veränderung gewaltig ist. Die Frage ist nur, wie Lehrerinnen und Lehrer auf solche Worte reagieren. Bei vielen herrscht doch das Gefühl: Da wedelt der wieder mit so einer Riesenflagge. In Wirklichkeit segeln wir in einem ganz kleinen Boot.

Böger: Ich weiß um die Mühen und sage deshalb: Die Schulreform ist ein langer Prozess, den wir alle gemeinsam konstruktiv gestalten müssen.