Enteignungs-Urteil hilft nur wenigen

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Deutschland wegen der entschädigungslosen Enteignung von Bodenreform-Erben durch die Bundesregierung nach 1992. Für neue Klagen von Betroffenen ist es jedoch zu spät

von CHRISTIAN RATH
und ULRIKE HERRMANN

Kein Grund zur Panik für die ostdeutschen Finanzminister: Sie müssen vermutlich nicht mit hohen Kosten rechnen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg beanstandete gestern zwar, dass in etwa 70.000 Fällen ostdeutsche Flächen entschädigungslos enteignet wurden. Aber dies nützt voraussichtlich nur jenen, die sich juristisch gegen die Enteignung gewehrt haben.

Konkret geht es um Flächen, die in der DDR-Bodenreform nach dem Zweiten Weltkrieg an „Neubauern“ verteilt wurden. Später wurden die Flächen zwangskollektiviert, aber das formale Eigentum der Neubauern blieb erhalten und konnte vererbt werden. Wurde die landwirtschaftliche Tätigkeit aufgegeben, fiel das Eigentum an den Staat zurück – allerdings wurde diese Rechtsvorschrift in der DDR nicht konsequent angewandt.

Die fünf Kläger hatten in den 70er- und 80er-Jahren solche Grundstücke geerbt. Mit dem so genannten Modrow-Gesetz der DDR-Volkskammer vom März 1990 erhielten sie unbeschränktes Eigentum an den Grundstücken. Doch schon zwei Jahre später korrigierte die Bundesregierung diese Rechtslage und übernahm erneut die Konzeption der alten DDR: Das Eigentum sollte nur behalten, wer bereits im Jahr 1990 in der Landwirtschaft tätig war. Bei den fünf Klägern war dies nicht der Fall. Sie mussten deshalb die Grundstücke und sogar ihre zwischenzeitlichen Pachteinnahmen zurückgeben. Dafür erhielten sie keine Entschädigung.

Die Bundesregierung rechtfertigte die entschädigungslose Enteignung damit, dass die Betroffenen „keinen Vertrauensschutz“ genossen hätten. Wäre das DDR-Recht richtig angewandt worden, hätten sie das Eigentum schon damals verloren. Nur eine angebliche „Regelungslücke“ im Modrow-Gesetz habe sie überhaupt zu vollwertigen Eigentümern gemacht. Bisher gingen auch alle deutschen Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht von dieser These aus.

Auch der Straßburger Gerichtshof erklärte nun die Enteignungen selbst für zulässig. Der deutsche Staat durfte das Modrow-Gesetz korrigieren, um vermeintlich unbeabsichtigte Folgen zu beseitigen. Dennoch liege ein Verstoß gegen das erste Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, da keinerlei Entschädigung bezahlt wurde. Damit sei die „faire Balance“ zwischen öffentlichem Interesse und Eigentumsschutz eindeutig verfehlt worden. Auch die außergewöhnlichen Zustände nach der Wiedervereinigung könnten dies nicht rechtfertigen.

Die Entscheidung der sieben Richter fiel einstimmig. Den Kläger steht damit Schadenersatz zu, weil die Konvention verletzt wurde. Ungewöhnlicherweise haben die Richter dessen Höhe aber vorerst offen gelassen. Die Bundesregierung berät jetzt, ob sie die Entscheidung akzeptiert oder eine Überprüfung des Urteils durch die Große Kammer des Straßburger Gerichts anstrebt.

Selbst wenn die Entscheidung Bestand hat, gilt sie nur für die fünf Kläger. Sie können in Deutschland die Wiederaufnahme ihrer Verfahren verlangen. Mittelbar nützt der Richterspruch jedoch auch all denen, die sich ebenfalls noch in Rechtstreitigkeiten wegen der Enteignung befinden. Nach Angaben von Klägeranwältin Beate Grün sind das 2.000 bis 4.000 Fälle.

Alle anderen Betroffenen können juristisch nicht mehr gegen die Enteignung vorgehen. Anwältin Grün forderte gestern zwar auch diesen Personenkreis auf, binnen eines Monats die Wiederaufnahme ihrer Verfahren zu betreiben, räumte aber selbst „große Risiken“ ein.