Ungeklärt und fern der Heimat

„Dieses Asylheim ist die letzte Station für euch in Deutschland“, hat der Hausmeister gesagt

AUS ENGELSBERG JÖRG SCHALLENBERG

16 Quadratmeter Zimmer, die er mit einem anderen Bewohner teilt, ein rostiges Bett und ein riesiger Fernseher. Das ist alles, was Jan S. nach zehn Jahren in Deutschland geblieben ist. Und die schöne Aussicht natürlich. Wenn er aus dem Fenster blickt, dann sieht der Flüchtling aus der Bürgerkriegsregion Kaschmir Wiesen, Felder und die Berge. Alpenpanorama. Da hat Katrin Jahndel wirklich nicht zu viel versprochen. Es sei doch eine „wunderbare Urlaubsgegend“ hier draußen in Engelsberg, hat die Pressesprecherin der Regierung von Oberbayern gesagt, und das klang so, als wolle sie ernsthaft Werbung machen für die touristischen Vorzüge der Region rund 100 Kilometer südlich von München und kurz vor der Grenze zu Österreich. Vielleicht hat sie auch nur nicht gemerkt, wie zynisch es sich angehört hat.

Sicher: Wer Wert legt auf beschauliche, ruhige Ferien weitab vom Großstadtgetümmel, der ist hier kurz vor den Alpen richtig. Aber Jan S. will hier gar nicht sein. Er weiß eigentlich überhaupt nicht mehr, wo er noch hin soll. Vor fünfzehn Jahren hat er Kaschmir verlassen. Zunächst ist er nach Pakistan geflohen, 1994 schmuggelte er sich weiter nach Deutschland, ohne gültige Papiere. Er stellte einen Asylantrag, der im August 1995 abgelehnt wurde. Damit war klar: Hier bleiben durfte er nicht. Nur: Zurück wollte ihn auch niemand.

Indien und Pakistan streiten seit über 50 Jahren mal friedlich, mal mit Militärgewalt um die Region Kaschmir, durch die eine Grenzlinie führt, die beide Staaten nicht anerkennen wollen. Ungefähr genauso lange herrscht in Kaschmir latenter oder offener Bürgerkrieg. „Es ist völlig unmöglich, Papiere zu bekommen, die beweisen, dass ich dort geboren bin“, sagt Jan.

Obwohl eigentlich niemand bezweifelt, dass Jan S. tatsächlich aus Kaschmir stammt, fühlen sich weder Pakistan noch Indien für ihn zuständig. Damit ist der 31-Jährige zu einem Problemfall für die deutschen Behörden geworden. Sie können ihn nicht abschieben, solange sie nicht wissen, wohin. „Staatsangehörigkeit: ungeklärt“, steht auf seinen Behelfspapieren. Deshalb sitzt er jetzt in Engelsberg – zusammen mit einem anderen „Ungeklärten“ auf 16 Quadratmetern mit schöner Aussicht.

Hierhin, tief ins Hinterland, schieben die zuständigen bayerischen Behörden seit ein paar Monaten bevorzugt „Ungeklärte“ ab. Jan S. musste Ende Oktober vergangenen Jahres aus Passau hierher übersiedeln. Nach ein paar Tagen sagte ihm der Hausmeister: „Dieses Asylheim ist die letzte Station für euch in Deutschland. Danach kommt nichts mehr.“

Wenn man am Sonntagmorgen gegen neun Uhr vorbeischaut, weil sich der Leiter der Unterkunft wenig begeistert über einen Besuch während seiner Dienstzeit zeigte, scheint überhaupt niemand da zu sein in den beiden schmutziggelben Häusern an der Mühldorfer Straße 100. Der Eingang ist offen. Als Jan nach vorsichtigem Anklopfen seine Zimmertür öffnet, kratzt er sich noch schlaftrunken den Kopf – um sich dann gleich wortreich zu entschuldigen, dafür dass er noch im Bett gelegen hat: „Wir schlafen meistens lange. Was sollen wir sonst tun?“ Hier wacht keiner gern früh auf. Es ist dann noch so viel Tag übrig, den man rumbringen muss.

Die Einrichtung ist karg. In der Ecke rostet ein Doppelstockbett mit durchgelegenen Matratzen, gegenüber stehen ein paar alte Metallspinde, daneben wackelige Stühle und ein niedriger Tisch, auf dem halb abgedeckt ein Reisgericht und ein paar abgenagte Hühnerknochen vor sich hin dünsten. Auf dem Flur gibt es ein Telefon, mit dem man ausschließlich den Notruf erreichen kann. Meist sitzen Jan und andere Bewohner vor seinem Riesenfernseher – der stammt aus der Zeit, als Jan noch arbeiten durfte. Doch seine Arbeitserlaubnis ist schon lange weg, einen Prozess gegen die Ausländerbehörde, um sie wiederzubekommen, hat er vor kurzem verloren.

Möglicherweise sei ja genau deswegen jetzt hier in Engelsberg, munkelt er. Weit, weg von seinem Anwalt, weit, weg von Freunden und Bekannten. Und von den „Annehmlichkeiten der Großstadt“, wie es Katrin Jahndel formuliert. Dort, in den Städten und Ballungsräumen, sagt die Sprecherin der für Engelsberg zuständigen Regierung von Oberbayern, fühlen sich abgelehnte, aber geduldete Asylbewerber „recht wohl“. Um ihnen „die Möglichkeit zur Schwarzarbeit zu nehmen“, werden sie ins Hinterland verfrachtet, erklärt sie. Dorthin, wo man nichts machen kann, außer abwechselnd aus dem Fenster oder auf den Bildschirm zu starren.

Die Verkehrsverbindungen sind miserabel, aber Jan könnte sowieso nirgendwohin fahren. Taschengeld bekommt er seit anderthalb Jahren nicht mehr. Und weil er sich deshalb auch gar nichts kaufen kann, gibt es in Engelsberg zweimal die Woche ein Essenspaket. Damit kann Jan dann in eine der gähnend leeren Großküchen gehen und sich auf den Kochplatten etwas Reis zubereiten. Wenn der Strom nicht gerade ausgefallen ist, was gelegentlich vorkommt. Im Moment funktioniert auch die Heizung nicht richtig. Winterkleidung hat es auch noch nicht gegeben. Draußen liegt Schnee, von den Bergen pfeift ein scharfer Wind herüber.

Jan S. sitzt in fleckigem T-Shirt, dünner Trainingshose und nackten Füßen in Badeschlappen auf dem Bettrand. Er spricht gut Deutsch und bemüht sich, ruhig und sachlich zu erzählen, aber zwischendurch flackern immer wieder Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit auf. Dann hebt er beide Hände in die Höhe und ruft: „Was soll ich machen? Das ist kein Leben hier.“ Dann sinkt er resigniert in sich zusammen. „Vielleicht hoffen sie, dass ich einfach abhaue.“ In die Illegalität. Er erzählt von ein paar Iranern, die schon nach einem Tag in Engelsberg wieder verschwunden waren: „Die haben sofort gemerkt, dass es von hieraus nicht mehr weitergeht.“

Neben Jan wackelt Alexander Thal auf einem der maroden Stühle ungeduldig hin und her. Er hat Geschichten wie die von Jan schon oft gehört – und scheint doch jedesmal aufs Neue entgeistert zu sein: „Das gehört einfach zum Konzept, dass Leute abtauchen. Für die Behörden ist das ein Erfolg, dann können sie ihn aus der Statistik streichen. Das gilt als unkontrollierte Ausreise, und der Staat spart sich die Sozialleistungen.“ Thal arbeitet für die Münchner Menschenrechtsorganisation „res publica“ und fährt öfter hierher nach Engelsberg. Und weil man diese spezielle Form der Unterbringung doch beim Namen nennen müsse, sagt er: „Das ist ein Ausreisezentrum light.“

Trotzdem bestreitet Katrin Jahndel von der oberbayerischen Bezirksregierung ebenso vehement wie das bayerische Innenministerium, dass Engelsberg ein Ausreisezentrum ist. Bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2002 landete der Begriff auf dem zweiten Platz, gleich hinter der Ich-AG. So ein Wort nimmt man nicht mehr gern in den Mund.

Bayerns offiziell einziges Ausreisezentrum steht außerdem gut 270 Kilometer entfernt in Fürth, umgeben von 2,20 Meter hohen Zäunen und bewacht von uniformiertem Sicherheitspersonal. Dort bringt der Freistaat jene Flüchtlinge unter, die „sich bewusst gegen die Befolgung ihrer Ausreiseverpflichtung entschieden haben“. Sagt der CSU-Innenminister Günter Beckstein.

Jenen, die nach offizieller Meinung absichtlich ihre Papiere weggeworfen haben, soll im Ausreisezentrum klar gemacht werden, dass sie in Deutschland keine Zukunft mehr haben. Weil das Fürther Lager aber selbst CSU-Politiker entsetzte und reichlich Protest in der Bevölkerung provozierte, schicken die bayerischen Behörden die angeblich nicht Ausreisewilligen jetzt lieber nach Engelsberg.

Es gibt keine Zäune, es gibt keine Wachen, es gibt niemanden, der vor den Toren protestiert. Und auch wenn man in den kahlen Gängen der Engelsberger Unterkunft nur Flüchtlinge trifft, die entweder „ungeklärt“ sind wie Jan oder aus Ländern wie Afghanistan oder Eritrea stammen, wo man wegen der unsicheren politischen Lage noch zögert, sie zurückschicken. Die Ödnis dieses Ortes spürt der Besucher schon nach wenigen Minuten. Wer hier, am Rande der Gemeinde, am Rande Bayerns, am Rande Deutschlands, ohne Geld, dicke Sachen und ohne Hoffnung auf Veränderung nicht merkt, dass er nicht erwünscht ist, der ist wahrscheinlich tot. Es braucht wirklich keine Zäune, um Menschen einzusperren. Oder auszusperren. Engelsberg ist Endstation. Alle müssen raus.