Freiheit für die wilden Löwen

In bester Stimmung bereitet sich Winnie Schäfers Kameruner Mannschaft im spanischen Marbella darauf vor, zum dritten Mal in Folge Afrikas Fußballkrone zu gewinnen. Erster Gegner ist morgen im tunesischen Sousse das Team aus Algerien

„Unglaublich, dass ein Europäer ein afrikanisches Team so trainiert“

AUS MARBELLA FRANK KETTERER

Das Spiel ist aus und Orange hat gewonnen. Nun tanzt Orange ausgelassen über den saftig-grünen Übungsplatz im Marbella Paradise of Football. Es muss ein großer Sieg gewesen sein. Vor allem aber war es ein großer Spaß. Das ist fast immer so, wenn Kameruns beste Fußballer sich treffen, um sich auf ein Großereignis vorzubereiten. Diesmal ist es der heute beginnende Coupe d’Afrique in Tunesien, für den sich die Kicker unter der wärmenden Sonne Andalusiens in Form bringen – und deshalb ist es völlig egal, dass an diesem Vormittag lediglich der Triumph in einem Trainingsspielchen befeiert wird. Orange hat Grün besiegt, Kamerun I hat Kamerun II geschlagen, mehr ist nicht passiert. Aber gejubelt haben sie anschließend, als hätten sie den Afrika-Cup gerade eben schon gewonnen.

„Fußball muss Spaß machen“, sagt Mohammadou Idrissou, ein langer, schlaksiger Kerl, der sein Geld bei Hannover 96 in der Bundesliga verdient, und grinst übers ganze Gesicht. Das ist ein ziemlich einfacher Satz, wahrscheinlich war er sogar einmal wahr. Aber wo ist das heute noch so in einem Metier, in dem es zuallererst um Geld geht, um viel Geld, und natürlich ums Gewinnen, egal wie? Oder, anders gefragt: Wo singen die Spieler noch auf der Fahrt zu Training oder Spiel? In welcher Mannschaft scherzen und lachen sie, während sie ihre mühsam antrainierten Muskeln dehnen? Und wo tanzen sie anschließend, nach all dem Training, noch ausgelassen und natürlich wieder lachend durch die Hotellobby und schwenken dazu ihre Hüften so lasziv und elegant, dass sich all die feinen Damen dort nach ihnen umdrehen?

In Kameruns Nationalmannschaft ist all das der Fall. Wenn sich die Kicker für ein paar Tage zur Vorbereitung treffen, so wie jetzt im vornehmen Hotel Quinta in Marbella, gerät ihnen das Trainingslager immer auch zu einer Art Familientreff. „Wir sind nicht nur eine Mannschaft, wir sind Freunde“, sagt Mohammadou Idrissou. Die meisten kennen sich von Kindesbeinen an und haben schon in der Heimat zusammen Fußball gespielt, bevor sie ausgeströmt sind in die Ligen der Welt, um dort jenes Geld zu verdienen, das es in Kamerun nicht zu verdienen gibt. Wenn sie nun wieder zusammenkommen, um sich für den Afrika-Cup zu präparieren, dessen Spiele live bei Eurosport zu sehen sind, haben sie viel zu erzählen. Und dabei sprechen sie ihre Sprache, singen ihre Lieder, tanzen ihre Tänze – und spielen ihren Fußball. Die Nationalmannschaft ist den Fußballsöldnern zur zweiten Heimat geworden, ein kleines Stück Kamerun mitten in Europa, wo sie sich meist zum Training treffen. „Wir haben wirklich eine tolle Stimmung und sehr viel Spaß“, sagt Idrissou. Dann rollt er seine großen Augen und – lacht.

Damit kein Missverständnis aufkommt: Auch bei den unzähmbaren Löwen, wie Kameruns beste Fußballer sich stolz nennen, geht es ums Gewinnen, gerade beim Afrika-Cup. Zweimal, 2000 sowie 2002, ist ihnen das zuletzt gelungen, dreimal in Serie hat es noch keine Mannschaft geschafft. Sollte es ausgerechnet ihnen glücken, würden die Kicker um Kapitän Rigobert Song, in ihrer Heimat ohnehin als Nationalhelden verehrt, gänzlich zu lebenden Legenden werden. „Wenn man Afrika-Meister ist, dann will man das auch bleiben“, sagt Song, der einst für den 1. FC Köln des Gegners Stürmer stoppte und derzeit über eine Rückkehr in die Bundesliga zu Hannover 96 nachdenkt.

Dass halb Afrika, allen voran Gastgeber Tunesien, Senegal, Nigeria sowie Mali, das verhindern will und eine ziemlich gnadenlose Jagd auf die Löwen veranstalten wird, um sie doch zu zähmen oder gar zu erlegen, ist dem Kapitän mit den Rastalocken bewusst. „Wenn man keinen Druck aushält, muss man den Job aufgeben“, sagt er – und grinst. Mohammadou Idrissou, der Kollege vom Sturm, teilt diese Meinung: „Es wird schwer für uns, aber wir schaffen das schon. Wir sind schließlich Kamerun.“ Löwen fürchten sich nicht.

Warum auch, schließlich ist kein anderes afrikanisches Team so prominent besetzt wie Kamerun? Lediglich die beiden Reservetorhüter spielen noch in ihrer Heimat, der komplette Rest jagt in den stärksten Ligen der Welt dem Ball nach, manche, wie Salomon Olembe bei Leeds United, Eric Djemba Djemba bei Manchester United oder Samuel Eto’o bei Real Mallorca haben es auch in ihren Klubs zu nicht wenig Starruhm gebracht. Wie stark die Unzähmbaren sind, haben sie letzten Sommer beim Konföderationen-Cup unter Beweis gestellt, als sie erst im Finale mit 1:0 von Frankreich bezwungen wurden, davor freilich schalteten sie Weltmeister Brasilien sowie den WM-Dritten Türkei aus.

„Das war für uns eine große Wiedergutmachung“, sagt Idrissou; und sie war wohl auch nötig nach der vermaledeiten WM ein Jahr zuvor in Asien, wo die als Geheimfavorit angereisten Kameruner bereits in der Vorrunde scheiterten – an Deutschland. Damals war nicht mehr viel übrig geblieben von all dem Spaß am Fußball, eigentlich war es schon im Vorfeld der WM vorbei damit: Da gab es den üblichen Zoff zwischen Spielern und Verband wegen der Prämien, die Anreise war mit einer Dauer von 45 Stunden an Chaos kaum zu überbieten – und viel zu kurzfristig. „Wenn wir fünf Tage früher in Japan sind“, sagt Winfried Schäfer, der deutsche Trainer der Kameruner, „starten wir da durch.“

Der Satz gilt in Kamerun längst allen als allgemeingültige Erklärung für das allzu frühe WM-Scheitern – und als Entschuldigung gleich obendrein. Nicht daran, dass sie schlecht Fußball gespielt hätten, hat es gelegen, sondern, mal wieder, an der verheerenden Organisation. Vor allem dem Trainer hat diese Version den Kopf gerettet. „Es lag nicht an ihm, es lag an den Umständen“, formuliert das Rigobert Song, der Kapitän. Bei ihren früheren Übungsleitern waren die Löwen weit weniger zimperlich: In den anderthalb Jahren vor Schäfer verschlissen sie sage und schreibe fünf Fußballlehrer, macht im Durchschnitt alle drei Monate einen.

Bei Schäfer ist das anders. Seit zweieinhalb Jahren ist der Trainer, der nach seinen Bruchlandungen mit dem VfB Stuttgart sowie Tennis Borussia Berlin in der Bundesliga als kaum mehr vermittelbar galt, nun schon König der Löwen. Als die Mannschaft vor zwei Jahren zum ersten Mal den Afrika-Cup unter ihm gewann, hängte ihm Staatspräsident Paul Biya anschließend einen Orden um, als das Team letztes Jahr den Weltmeister schlug, tanzten die Menschen in Kameruns Hauptstadt Jaunde erneut vor Freude auf den Straßen, die WM-Schmach war längst vergessen. Nun, ab morgen, wenn Kamerun gegen Algerien (19 Uhr/live bei Eurosport) ins Turnier startet, kann auch Schäfer sich unsterblich machen im Land der Löwen: Noch nie hat ein Trainer den Afrika-Cup zweimal in Folge gewonnen. Schon davor soll der Vertrag mit dem Deutschen verlängert werden – bis 2006 und somit bis zur nächsten WM in Deutschland. „Da“, sagt der 54-Jährige, „will ich dabei sein.“ Natürlich mit Kamerun.

Warum aber klappt es so gut zwischen dem deutschen Trainer, dessen Dienste zu Hause nicht mehr gefragt waren, und diesen wilden Löwen? Warum darf er bei der WM ausscheiden – und doch ihr Trainer bleiben? „Er macht eine gute Arbeit und die Ergebnisse sind gut. Also ist er ein guter Trainer – und der richtige für uns“, sagt Rigobert Song. Außerdem, so der Kapitän, lasse er den Spielern im Einzelnen sowie der Mannschaft im Allgemeinen „ihre Freiheit“. Wie die aussieht, kann man im Training sehen: Schäfer lässt die Löwen vor allem eines: spielen. Den Rest machen sie mehr oder weniger unter sich aus: „Joue, joue, joue“ – spiel, spiel, spiel –, raunzt Kapitän Song dann den Kollegen an, wenn der ihm den Ball zu langsam durch die Reihen laufen lässt; foult ein Löwe den anderen, was selten vorkommt und höchstens aus Versehen, heult gleich das ganze Rudel auf – und der Bösewicht schleicht sich. Die Mannschaft, so der Eindruck, ist sich selbst ihr größtes Korrektiv, der Trainer greift nur selten ein, um via Dolmetscher seine Anweisungen zu geben. Lieber geht Schäfer, zu Hennes Weisweilers Zeiten Mittelfeldrenner in Gladbachs berühmter Fohlenelf, seinem eigenen Spieltrieb nach – und kickt einfach mit. „Es ist unglaublich, dass ein europäischer Trainer eine afrikanische Mannschaft so trainiert“, sagt Mohammadou Idrissou. Der Spiegel hat das schon nach Schäfers erstem Sieg beim Afrika-Cup so formuliert: „Vielleicht macht er in Kamerun nicht besonders viel richtig, ziemlich sicher macht er jedoch ganz wenig falsch.“

Die Löwen wollen Spaß, Schäfer lässt sie gewähren, und vielleicht ist dies das größte Geheimnis seines Erfolgs mit Kamerun: Er will sie nicht bändigen und schon gar nicht domestizieren. Bei ihm dürfen sie wild sein und gefährlich und unzähmbar. Bei Schäfer dürfen die Löwen ihren Fußball spielen, großartige Fußballer sind sie ohnehin allesamt. Nur können und dürfen sie das in ihren Klubs bisweilen nicht zeigen, weil sie eingesperrt werden in einen allzu starren Käfig aus – Taktik. „Taktik?“, sagt Rigobert Song und winkt leicht verächtlich ab: „Auf was es ankommt, ist Tore zu machen.“ Und Spaß zu haben. Tore machen Spaß. Und Taktik war noch nie Schäfers herausragende Stärke.

Vielleicht passen die Dinge deshalb so gut zusammen. „Der Trainer hat gesehen, dass die Mannschaft gute Stimmung hat. Da muss er nichts mehr tun“, sagt Mohammadou Idrissou. Als er merkt, dass man das auch negativ auslegen könnte, nicht ihm, sondern dem Trainer, schiebt er nach: „Alles, was die Mannschaft macht, kommt vom Trainer. Der Trainer macht alles.“ Dann lacht der Mann aus Hannover. Wahrscheinlich hat er gerade wieder jede Menge Spaß.