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Fußkrämpfe in Jurten

Lesen in mongolischen Zelten: Beim „3. Berliner Wintersalon“ gab es im Sony Center „Geschichten in Jurten“ zu hören. Man lauschte, massierte sich die eingeschlafenen Glieder, reckte den verspannten Nacken und hielt sich das Kreuz

So ähnlich muss es sich anfühlen. Das mit den Jurten. Erst kämpft man sich gegen einen eisigen Wind zum Ort des Geschehens vor, dann sitzt man mit sehr vielen anderen Menschen zusammengequetscht in einer schwach beleuchteten und schlecht gelüfteten Zelt-Höhle und lauscht den Geschichten eines Erzählers oder einer Erzählerin. Nur dass man sich nicht durch die asiatische Steppe schlägt, sondern die U-Bahn nimmt, was aber manchmal aufs Gleiche rauskommt.

Während die Filzzelte in der mongolischen Steppe traditionelle Behausung für die dort lebenden Nomaden sind, fand unter der High-Tech-Kuppel des Sony Centers zum dritten Mal der Berliner Wintersalon in ihnen statt. Die Idee, mongolische Jurten als Spielort für Literatur zu nutzen, entstand aus der Auseinandersetzung mit der futuristischen Architektur, erfuhr man aus dem Pressetext. Und auch, dass die in Handarbeit hergestellten Jurten mit der Form und dem Material der einzigartigen Zeltdach-Konstruktion „korrespondieren“ und einem die behagliche und gemütliche Salonatmosphäre der Zelte die Autoren ganz „authentisch“ erleben lasse. Na dann.

Authentisch war es tatsächlich. Denn weil es draußen so schön kalt war, der Winterschlussverkauf in den benachbarten Arkaden eher schleppend seinen Anfang nahm und weil so hochkarätige Autoren wie Jenny Erpenbeck, Eva-Maria Hagen und Jenni Zylka lasen, waren die beiden Jurten, in denen zu jeder vollen Stunde parallel gelesen wurde, fast zu jeder Lesung wie zu einer mongolischen Großhochzeit prall gefüllt. Das passte, denn schließlich ging es bei allen Texten im weitesten Sinn um das Thema Familienbande.

Viele Zuhörer hatten sich Tee in Thermoskannen und belegte Brötchen mitgebracht und wie in der Mongolei wohl üblich, gab es nur einige Filzhocker zum Sitzen. Was ja auch sehr gemütlich sein kann. Da der Rest des Publikums sich aber bis auf dem letzten Zentimeter auf dem orange lackierten Holzfußboden verteilte und sich um die wenigen Kissen stritt, musste man sich früher oder später kleine Grabenkämpfe mit dem nächsten Nachbarn liefern, der auch versuchte, seine kribbelnden weil eingeschlafenen Füße durch Bewegung vor dem Absterben zu retten.

So wie am Samstagabend, als Abini Zöllner aus ihrem autobiografischen Buch „Schokoladenkind. Meine Familie und andere Wunder“ las. Darin erzählt die 1967 in Berlin-Lichtenberg geborene Journalistin heiter-pragmatisch von ihrem Leben in der DDR und der Nachwendezeit und davon, wie sie die Maueröffnung verschlief.

Das Buch sei eine Hommage an ihre Mutter, sagte sie nach der Lesung und dass sie beim Schreiben gemerkt habe, wie schwer es eigentlich ist, sein Leben mit einfachen Sätzen zu beschreiben. Das Publikum war interessiert, scharrte nach einer Stunde trotzdem verzweifelt mit den Füßen.

Mit etwas mehr Beinfreiheit ging es weiter mit Alexa Hennig von Langes elegischem Buch „Woher ich komme“. Da danach keine Fragen offen waren, stellte die Autorin sie sich selbst und verriet, dass sie an jedem Text ungefähr vier Monate arbeite und ihr übergreifendes Thema das Erwachsenwerden sei. „Na, dann noch viel Spaß heute Abend beim Kino oder in der Kneipe. Oder was liegt jetzt an?“, verabschiedete sie sich zum Schluss. „Es gibt noch bis um 24 Uhr Lesungen“, flüsterte eine Frau in der ersten Reihe und hielt sich müde ihr Kreuz.

„Danke. War schön. Weiter so. Euer Knuth“, brachte es ein Besucher im Gästebuch auf den Punkt, und gleich daneben fasste die Schulklasse 8e die Veranstaltung so zusammen: „Es war hier sehr interessant. Aber es war auch ein bisschen stickig und ungemütlich.“ SANDRA LÖHR

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