nebensachen aus dem internet
: E-Mail-Wechsel mit einem Bombenopfer: Ich werde Ann anrufen. Was soll ich ihr sagen?

Ann hat noch ein paar Stunden, bis die Bombe hochgeht. Sie schreibt mir nachmittags am Silvestertag eine E-Mail aus Bagdad. Am Abend will Ann mit ihren Arbeitskollegen ins neue Jahr feiern. Einen Tag später sieht alle Welt auf den Fernsehbildschirmen die ausgebombte Fassade des Restaurants Nabil im vornehmeren Stadtteil Asarat. Um 21 Uhr hat eine Autobombe acht Menschen getötet und zwölf verletzt. Acht von den Verwundeten berichten aus dem Irak für die Los Angeles Times.

Mit einer der L.A.-Times-Journalistinnen bin ich befreundet: Ann Simmons. Bis zum vergangenen Herbst war sie die Korrespondentin der kalifornischen Tageszeitung in Johannesburg. Als Afrika-Korrespondenten trafen wir uns in Liberia. Jetzt arbeitet sie eigentlich in der Heimatredaktion der L.A. Times. Das Irak-Büro brauchte nur kurz über Weihnachten Unterstützung. In Los Angeles hatte sie sich gerade ein Haus gekauft, wollte eine ruhigere Zeit nach dem nicht immer einfachen Afrika-Job einlegen. In einer E-Mail beklagt sie sich über die Wucherpreise. Zu Schwarzenegger merkt sie an: „Only in America!“ Wir tauschen Gedanken aus über W.E.B. DuBois’ „Souls of Black Folks“, ein Standardwerk des afroamerikanischen geistigen Erbes, das nach genau 100 Jahren jetzt auch ins Deutsche übersetzt wurde. Ich schreibe ihr, dass ihr als Schwarzer in den USA angesichts des Irakkrieges ziemlich schnell der Patriotismus abgehen müsse. Das weiße Amerika kennt nur die befreite Kriegsgefangene und jetzige Kriegsheldin Jessica Lynch – aber was ist mit ihren Kameradinnen wie der getöteten Lorri Piestewa, Mutter einer kleinen Tochter und von der Volksgruppe der Hopi? Ist das wieder nur Zufall, dass nichtweiße Amerikaner wenig Beachtung finden?

Ann und ich schreiben uns E-Mails – da, wo wir gerade sind. Die Ortsmarken lauten: Cotonou-Johannesburg, Los Angeles–Lagos, Ouagadougou–London. Drei Tage vor Silvester heißt die E-Mail „Hamburg–Bagdad“. Ich hatte noch dazugeschrieben: „Take it easy! Lieber würde ich im liberianischen Rebellenhinterland mit Kindersoldaten wandern gehen, als im Irak als Ausländer unterwegs zu sein.“

Ann ist eine schwarze Engländerin, ursprünglich aus Jamaika, Mitte 30 und ein Sprachgenie, das Russisch, Norwegisch, Französisch, Deutsch spricht – den Rest habe ich vergessen. Wir trafen uns im August in der liberianischen Hauptstadt Monrovia. Es waren die Tage unter Belagerung der Rebellen. Der Präsident Liberias, Charles Taylor, sollte ins Exil gehen. An dem Tag seines Abdankens ließ er alle im Präsidentenpalast Stunde um Stunde warten. Zur Ermunterung spielte eine Kapelle. Ann fing an zu tanzen. Auf CNN hieß es später, Monrovia sei die gefährlichste Stadt der Welt. Das dachte ich anfangs auch. Angesichts der Kalaschnikow-Knallerei direkt unter meiner Fenster verbrachte ich aus Angst die erste Nacht zur Hälfte im Badezimmer und dann im Wandschrank, die Klinge von meinem Leatherman aufgeklappt – für den Fall, dass Rebellen oder Plünderer mein Zimmer stürmen sollten. Am nächsten Morgen erfuhr ich, dass das Schießen der Sicherheitsleute des Hotels Routine sei, um Räuber abzuschrecken.

Ann war vor mir in Monrovia angekommen. Sie erzählte mir, wie Granaten der Rebellen überall um das Hotel herum einschlugen. Wie aufgescheuchte Hühner seien alle umher gelaufen, sagte sie. Auch Journalisten, weil sie sehen wollten, was mit den tausenden Flüchtlingen auf dem angrenzenden Botschaftsgelände geschehe. Eine Granate explodierte zwischen den Schutzsuchenden und riss 20 Liberianer in den Tod. Von den ausländischen Journalisten verlor keiner den Kopf – nicht in Liberia. Ann trug immer ihre kugelsichere Weste und einen Helm. Die in der US-Botschaft verschanzten Marinesoldaten wurden eher angehimmelt als bedroht. In Liberia sah wurden Amerikaner als Befreier angesehen. Aber in dem kleinen westafrikanische Land wollten sie nicht groß Flagge zeigen. Die drei US-Kriegsschiffe blieben stets auf Distanz zum Festland.

Monate später, am Silversterabend in Bagdad, näherte sich Ann zusammen mit ihren Kollegen in einem Auto dem Unglücksrestaurant – just in dem Moment, als die Autobombe ein paar Wagen vor ihnen explodierte. Ann hatte Glück im Unglück: Sie erlitt schwere Schnittwunden im Gesicht und am Hals, blieb aber am Leben. Was wäre geschehen, wenn sie einige Minuten früher gekommen wäre? „Was für ein Ende für das Jahr 2003. Ich danke Gott für mein Leben“, lese ich zwei Tage später in ihrer Mail. Sie ist schon wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden. Ihr verletztes Gesicht braucht wahrscheinlich später plastische Chirurgie. Das ist mir der Journalismus nicht wert, geht es mir durch den Kopf. Inzwischen ist Ann bei ihren Eltern in London. Ich werde sie anrufen. Was soll ich ihr sagen? HAKEEM JIMO