Wenigstens einmal gehört

Verschmierte Spuren: In Zeiten, da im Betrieb der Neuen Musik nur noch Uraufführungen gelten, ist es toll, wenn sich eine Veranstaltung wie das Ultraschall-Festival auf alte Stücke beschränkt. Nur schade, dass diesmal so viel Drittklassiges dabei war

Stücke, die gehört zu haben man dankt, ließen sich leicht an einer Hand abzählen

von BJÖRN GOTTSTEIN

Welches musikalisches Genre das schnelllebigste ist? Die zeitgenössische Klassik natürlich. Ein Stück wird uraufgeführt und der Ruhm währt bis zur nächsten Premiere, im Schnitt etwa zwanzig Minuten. Der Neue-Musik-Betrieb erliegt seit Jahren einem Uraufführungszwang, der von allen, von Komponisten, Verlegern, Veranstaltern und der Presse, getragen wird. Was für eine tolle Idee also, wenn ein Festival, das über wenig Geld, aber viel Zeit verfügt, auf teure Kompositionsaufträge verzichtet, um dem einen oder anderen Stück eine zweite Chance zu geben, um seit Jahrzehnten als Klassiker gehandelte und kaum gespielte Stücke nochmals in die Waagschale der Geschichte zu werfen. Mit diesem Konzept haben der RBB und das DeutschlandRadio nun bereits zum fünften Mal zehn Tage Festival auf die Beine gestellt.

Im Mittelpunkt des „Ultraschall“-Programms stand also alte und ältere neue Musik, häufig in Form von Stichproben-Porträts, die unter anderem Iannis Xenakis, der Österreicherin Olga Neuwirth und der Israelin Chaya Czernowin galten. Und irgendwie standen die Höhepunkte des Festivals auch schon fest, noch bevor der erste Ton erklungen war. An die gravitationsschwere Ballettmusik „kraanerg“, die Xenakis 1968 unter dem Eindruck der Studentenrevolte komponierte, wurden hohen Erwartungen geknüpft, die das Kammerensemble Neue Musik Berlin dann auch glänzend erfüllte, indem es wie mit dem Seziermesser in die dunklen Farben der Partitur hineinfuhr.

Ähnlich schweres Raunen begleitete die Aufführung des zweistündigen Infernos „Sui poemi concentrici“ von Salvatore Sciarrino. Das Dante nachempfundene Stück von 1987 geriet allerdings zu einer Enttäuschung, einfach weil Sciarrino nicht über ein mal flirrendes, mal grummelndes Passepartout hinausfindet und das Orchester zur bloßen Stimmungsmaschine degradiert. Aber man konnte sich immerhin freuen, das Werk endlich einmal gehört zu haben.

Diese Freude blieb im weiteren Verlauf des Festivals allerdings regelmäßig aus. Das Schöne an Uraufführungen ist ja, dass niemand am Kreuz der Schuld zu tragen hat. Die Veranstalter können nicht wissen, was sie sich einhandeln. Und der Komponist zuckt kauzig mit den Schultern, wenn ein Stück mal nicht so geraten ist, wie er es sich vorgestellt hatte. Dieser elegante Mechanismus ist den Programmgestaltern von „Ultraschall“ verwehrt. Die von Martin Demmler (RBB) und Rainer Pöllmann (DeutschlandRadio Berlin) ausgewählten Stücke waren längst geschrieben und man hätte bei der Auswahl durchaus höhere Ansprüche walten lassen können.

Man will sich nicht beschweren, wo Stücke einfach schlecht gealtert sind. Wolfgang Rihm hat man vor zehn Jahren den Esprit einer entsicherten Subjektivität zugute halten können, auch wenn die fahrigen Gesten heute oft ein wenig peinlich wirken. Es waren auch nicht die süßlichen Klangsorbets von José Maria Sánchez-Verdú oder das betont peppige Saxofonquartett des amerikanischen Musikers Nick Didkovsky, die irritierten. Immerhin wurden da die Nüstern noch vorübergehend vom schweren Duft der Dissonanzen befreit. Aber die Tonnen an drittklassigem Klanggarn, die in den vergangenen Wochen vor einem gut gewillten Berliner Publikum gesponnen wurden– von weben kann gar keine Rede sein –, stellen doch das Konzept des Festivals insgesamt in Frage.

Stücke, die gehört zu haben man dankt, lassen sich leicht an einer Hand abzählen. Chaya Czernowin zum Beispiel demonstrierte mit ihrem Ensemblestück „Afatsim“, wie klug und beredt Musik daherkommt, wenn man einen – keineswegs unerträglich originellen – Materialfundus klassischen Techniken unterzieht, die Motive staucht, diminuiert, augmentiert, durch- und vorführt, und den Prozess pathologischen Schwellens und Wucherns, den der hebräische Titel andeutet, als einen zutiefst musikalischen Prozess entlarvt.

Überzeugend gerieten auch die dissoziativen Kulissen und völlig überdehnten Räume einer elektromystischen Studie von Johannes S. Sistermann, der dem Hörer den Klang entzieht und den Vorgang des Beiseite-Hörens auskomponiert. Und der derzeit teuer gehandelte Russe Vadim Karassikov schließlich hat – wie einst Robert Rauschenberg – so lange an seinen Werken herumradiert, bis kaum mehr etwas übrig bleibt als verschmierte Spuren einer gewesenen Musik. Auch das ist eine musikalische Erfahrung, die weit über die genormte Praxis hinausführt.

Am Ende musste man sich darauf einigen, dass Iannis Xenakis einer der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts gewesen ist. Und das hatte man schon vorher gewusst.

Das beeindruckendste Stück des Festivals? Ein Orgelstück aus dem Jahre 1974. Xenakis’ „Gmeeoorh“ beginnt wie eine Paraphrase auf die hohe Kunst des barocken Orgelbuchs, mit verhaltenen, sich einsam kreuzenden Stimmen. Die Chromatik nimmt zu, hier und da legen sich seltsame Effekte über den Orgelklang, bis die beiden Assistenten Manuale und Pedale mit Holzbrettern abdecken und die Summe der Orgeltasten gleichzeitig angeschlagen wird. Zunächst sackt der Orgelklang weg, wohl weil der Luftmaschine die Puste ausgeht. Die Königin der Instrumente röchelt wie ein erschlagenes Tier.

Es dauert eine satte Minute, bis der Klang sich wieder aufbaut, das Röcheln sich in das Dröhnen einer Düsenturbine verwandelt und man als Hörer einer existenziellen Todesangst erliegt, nicht zuletzt, weil die bevorstehende Explosion der Orgel unter dem wachsenden Druck der Tontraube kaum mehr abzuwenden ist. Sie blieb, Gott und dem Orgelbauer sei’s gedankt, aus.