robin alexander über Schicksal
: Lateral. Posterolateral. Scheißegal

Im Vergleich zu deutschen Arztpraxen wird sogar im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Klartext geredet

Sport genießt einen guten Ruf. Zu Recht. Sport bringt attraktivere Sexualpartner, bessere Jobs und eine längere Jugend. Sport hat auch mich dahin gebracht, wo ich jetzt bin: auf die harte Liege meines Orthopäden. Von seinen heilenden Händen braucht der gleich beide, um mein geschwollenes Knie zu umfassen. „Mmmh – wohl beim Fußball passiert, was?“, rät er und guckt mich erwartungsvoll an. Kann der Weise im weißen Kittel etwa den Sport aus der Art der Verletzung lesen? Oder ist ihm aufgefallen, dass ich durchgeschwitzt bin, am Körper ein Trikot und am Ende des gesunden Beines einen Stollenschuh trage? „Nee, Ballett“, kann ich mir als Antwort gerade noch verkneifen und nicke aus taktischen Gründen zustimmend. Darauf mein Arzt freudig jovial: „Ja, wie sagte schon Winston Churchill: ‚First, no sports‘, nicht wahr?“ Das Zitat ist sogar authentisch, weiß ich, seit ich einmal an der Uni eine Arbeit über den englischen Kriegshelden im kollektiven Bewusstsein der Deutschen schrieb.

„Eine Menge kaputt“, fasst mein Arzt seine erste Untersuchung zusammen. Mein Wunsch nach einer noch konkreteren Diagnose wird nicht erfüllt. „Meniskusschaden, Kapselanriss, Kapselabriss, hinteres Kreuzband beschädigt und – schlimmstenfalls: vorderes Kreuzband durch.“ Festlegen werde er sich jedoch noch nicht: „Ich möchte bei Ihnen keine unnötigen Ängste wecken.“ Fakten verspricht nur eine Magnet-Resonanz-Tomographie, auf die man normalerweise zwei Wochen warten muss. Bei mir scheint sie aber dringender nötig, denn mir wird sofort ein Taxi zum Facharzt mit der einschlägigen Gerätschaft besorgt. Unter dem Rückspiegel des Taxis hängt eine weibliche Göttin, deren Namen in Sanskrit angegeben ist.

Der Hinduismus genießt einen guten Ruf. Zu Unrecht. Der Fahrer hat jedenfalls eine Stufe der Erleuchtung erreicht, auf der es nicht nötig ist, jemandem, der sein Bein erkennbar nur unter Schmerzen beugen kann, in den Wagen zu helfen. Mögest du als Wurm wiedergeboren werden, fluche ich innerlich. Und während ich noch grüble, ob das für einen Hindu eine höhere oder niedrigere Stufe der Reinkarnation wäre als Berliner Taxifahrer, meint der Inder: „Fußball, wa? Wie hat Churchill schon gesagt: No sports!“ Der dicke Engländer nimmt im kollektiven Gedächtnis verdammt viel Platz weg.

Das deutsche Gesundheitssystem hat keinen so guten Ruf. Zu Unrecht. Kaum eine Stunde nach der ersten Vorlage meiner Chipkarte habe ich schon eine MRT-Diagnose und mehrere Röntgenbilder. Nur immer noch keine klare Ansage. Weder Röntgenärzte noch MRT-Schwestern wollen sich festlegen: „Nun, man könnte sagen, gut ist es nicht, aber ich wage mal die Prognose, Ihr Orthopäde wird sagen, es hätte schlimmer kommen können.“ Im Vergleich zu deutschen Praxen wird sogar im UN-Sicherheitsrat Klartext geredet. Auf mein höfliches Insistieren: „Kreuzband gerissen oder nicht gerissen?“ lässt sich Dominique de Villepin in Schwesterngestalt zu einem Flüstern herab: „Auf dem MRT war das Kreuzband darstellbar.“

Auf dem Weg zurück zum Ausgangsorthopäden – diesmal in einem christlichen Taxi – übe ich mich in Exegese. Was meint: „war darstellbar“? Man sieht ein intaktes Kreuzband? Man sieht ein lädiertes Kreuzband? Man sieht ein zerfetztes Kreuzband? Man kann sich noch vorstellen, wo einmal ein Kreuzband war? Ich bin angekommen. Und warte, der Arzt berät sich mit einem Kollegen und meinen Befunden. Auf die habe ich im Taxi selbst gelinst: Lateralschaden. Und Posterolateralschaden, stand dort unter anderem. Ich kenne nur Kollateralschaden. Das ist, wenn eine Cruise-Missile in einer Schule explodiert. Mir schwant nichts Gutes. Wütend über diese verharmlosende Sprache, die niemand versteht, herrsche ich eine Arzthelferin an: „Kann ich wenigstens zwei Krücken haben?“ „Krücken gibt es bei uns nicht“, entgegnet sie schnippisch, „aber wenn Sie unterarmgestützte Gehhilfen meinen …“

Mein Funktelefon piept. Es ist ein Mitspieler, der bei meinem Unfall dabei war. Beileidsbekundungen. Dann hat er noch einen Scherz: „Wie sagte Churchill: No Sports, Alter! Ha. Ha.“ Ich muss einsehen: Über eine Million Tonnen Bomben auf Wohnviertel und der Sieg über den Faschismus sind im kollektiven Gedächtnis der Nation nichts gegen einen guten Spruch.

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