berliner szenen Ein grauer Tag

Zettel mit Cent

Plötzlich war aus dem Sonntag, der fast sonnig begonnen hatte, wieder so ein grauer Tag mit Nieselregen geworden. Wahrscheinlich war dieser Übergang gar nicht so plötzlich geschehen, sondern man war nur in Gedanken gewesen beim Spazierengehen, hatte zwischen Mehringdamm und Hasenheide darauf geachtet, immer tief durchzuatmen, weil man sich am Abend zuvor trinkend und zigarettenschachtelnrauchend doch ganz schön hochgeschaukelt hatte und weil die schönen neuen Schuhe die Füße immer konstant warm gehalten hatten, die Vergrauung des Tages also nicht von der Basis bemerkt worden war und weil die Augen beim Gehen eher auf den Boden gerichtet waren, hatte man halt die mittägliche Verdüsterung erst bemerkt, als sie schon vollendet war.

Nun sah der Tag aus wie ein französischer Roman aus den Fünfzigerjahren. Auf dem Gehweg gleich beim Südstern, auf der ärmeren Seite der Gneisenaustraße, lag ein quadratischer Zettel. Wie diese Zettel eben, die in Familien- oder WG-Haushalten neben dem Telefon liegen, wenn’s nur eines gibt. Auf dem Zettel stand in schreibungeübter Kugelschreiberhandschrift: „5cent Stücke=4,15?“ Kleiner, wie ein Echo, stand unter dem „?“ noch einmal, nur ohne „?“, „4,15“, darunter ein Strich und darunter „2cent Stücke=1,56 ?.“ und darunter dies alles noch einmal zusammengerechnet. In triumphierend großen Zeichen stand auf der Rückseite „6, 27“. Unter der „6“ stand ein „?“ und unter den „27“ „cent“. Das abschließende „t“ wirkte allerdings so, als hätte die Schreiberin (irgendwie war ich mir sicher, dass es sich um eine Frau handelte, vielleicht auch, um mir das komplizierte „der/die -erIn“ zu ersparen) plötzlich die Lust am Schreiben verloren.

DETLEF KUHLBRODT