„Verdiente Ärztin“ auf der Anklagebank

Rosemarie Albrecht, in der DDR ausgezeichnet, wird jetzt des Mordes während der NS-Zeit beschuldigt

Sie wirkt nicht unwürdig, die 88-jährige, weißhaarige, auf einen Stock gestützte Medizinprofessorin Rosemarie Albrecht. Zum ersten Mal, seit der Thüringer Stasi-Landesbeauftragte Jürgen Haschke im März 2000 Anzeige erstattete, äußert sie sich vor der MDR-Kamera zu den Euthanasie-Vorwürfen gegen sie. „Ich habe keinen Grund, irgendetwas zu verheimlichen“, erklärt Albrecht mit fester Stimme. „Ich habe keinem Menschen ein Haar gekrümmt!“ Zu einem Verhör sei sie sofort bereit.

Es geht um zwei fragwürdige Jahre der jungen Ärztin in der damaligen Thüringischen Landesheilanstalt Stadtroda. 1940 fand die Absolventin hier ihre erste Anstellung. Hier stieg sie in Zeiten des Ärztemangels schnell auf und leitete bald die psychiatrische Frauenstation mit 200 Betten. Einige ihrer Patientinnen überwies damals der Jenaer Arzt Jussuf Ibrahim, dessen Verstrickung in Euthanasie-Morde erst 2000 durch eine Kommission in Jena nachgewiesen wurde. Die nach ihm benannte Straße, auf der Rosemarie Albrecht wohnt, wurde in Forstweg umbenannt.

Die ungewöhnliche Zahl von 159 Todesfällen auf der Stadtrodaer Frauenstation gibt bis heute Rätsel auf. Schon 1964 hatte die DDR-Stasi Zweifel, ob „Herz- und Kreislaufschwäche“ der Behinderten wirklich als Todesursache in Frage käme, und ermittelte in Jena. Während auf andere ehemalige Jenaer Ärzte, die inzwischen im Westen lebten, mit dem Finger gezeigt wurde, blieb die inzwischen „national anerkannte und international bekannte“ Professorin Albrecht unbehelligt. Der Vorgang unter dem Decknamen „Ausmerzer“ landete in der MfS-Sperrablage.

Die „Verdiente Ärztin des Volkes“ avancierte in Jena zu Deutschlands erstem weiblichen Ordinarius einer Hals-Nasen-Ohren-Klinik und zur Dekanin. Der bekannte Euthanasie-Forscher Ernst Klee wies allerdings schon 1985 auf wahrscheinliche Morde an „unwertem Leben“ in Jena und Umgebung hin. 1993 wurde in der Uniklinik erstmals öffentlich darüber diskutiert. Noch im Jahr 2000 gab aber Professor Eggert Beleites, Präsident der Landesärztekammer, eine Ehrenerklärung für Ibrahim ab und verfasste eine Laudatio auf Rosemarie Albrecht zu ihrem 85. Geburtstag.

Nach mittlerweile dreijährigen Ermittlungen hält die Staatsanwaltschaft Gera zumindest einen Fall für erwiesen und will Albrecht wegen Mordes anklagen. Vermutlich sei die Patientin durch überhöhte Schlafmittelgaben getötet worden.

Am 18. Dezember des Vorjahres hatte eine „Freie Union Revolutionärer Anarchistinnen“ bereits vor der Staatsanwaltschaft und dem Wohnhaus der Beschuldigten wegen der vermeintlichen Verfahrensverschleppung demonstriert. Die emeritierte Universitätsprofessorin sieht jetzt in dem Verfahren eine Chance, ihre Unschuld zu beweisen und ihr Lebenswerk zu rechtfertigen. Ihr Anwalt stellt gar die Frage, ob das Verfahren wegen der Verjährungsfristen nicht hätte eingestellt werden müssen.

MICHAEL BARTSCH