Mit der Erde vermählt

„Customs“: Ein traditionell unterfüttertes, dabei hochmodernes bulgarisches Tanzpoem auf Kampnagel

Wer hätte vermutet, dass Bulgarian so weit entfernt liegt, so tief unter der Erde begraben. In Customs nähert sich die bulgarische Regisseurin Vazkressia Viharova uralten Bräuchen an, entdeckt sie neu in Fragmenten aus vergessenen Tänzen, Ritualen, Worten und Liedern und übersetzt sie in ein kompositorisch ausgefeiltes Tanzpoem von hochmoderner Form. In ein „Frühlingsopfer“ das seinem archaischen Ursprung befremdlich nahe kommt, sich in seiner choreografischen Bearbeitung mit allem bisher auf internationalen Tanzbühnen zu diesem Thema Gesehenen messen lassen kann.

Mit der Tanzperformance von der Naked Snail/New Bulgarian University ging am Wochenende der Themenblock „Polyzentral“ auf Kampnagel zu Ende. Customs lieferte noch einmal einen wundervollen Beitrag zu einem Festival, das über drei Wochen lang mit Produktionen teils junger, teils erfahrener Choreographen und Regisseure höchst inspirierende „Kulturarbeit“ betrieb.

1991 hat Vilharova die Theaterabteilung an der New Bulgarian University gegründet, deren Leiterin sie bis heute ist. Zwei Jahre zuvor hatte die auch international bekannte Regisseurin bereits mit der Arbeit an Customs begonnen. Schriften des bulgarischen Soziologen Ivan Hadjiiski lieferten ihr die Basis für die Auseinandersetzung mit der Identitätsfindung der Bulgaren. Das Vergessen sieht sie als nationales Trauma, das Erinnern als das Fundament der Zukunft ihres Landes. Beharrlich entwickelt Viharova das Stück seit 14 Jahren weiter, experimentiert mit Mitteln und Erscheinungsformen.

In Hamburg fügte sie erstens den Dokumentarfilm Wie ich eine Braut wurde zusätzlich ein. Ein altes Mütterchen in Filzpantoffeln erzählt darin von Hochzeitsbräuchen ihrer Jugend. Während ihre Erinnerungen an Fideln und mit Süßigkeiten gestopfte Brautschuhe eher folkloristische Bilder aufleben lassen, gehen auf der Bühne sechs junge Frauen eine Vermählung mit der Erde ein. Weiß geschminkte Gesichter, weiß verkleisterte Haare, das Kleid und den Kopfputz von Holzstöcken durchbohrt, zelebrieren sie ihren Ritus aus Tanz, melodischen Lauten und altbulgarischen Worten. Minimalismus und Langsamkeit lassen an japanisches Theater denken, die schnelle Fußarbeit in Holzschuhen an traditionelle osteuropäische Tänze. Nackt umarmen sie einen Blasebalg, entlocken ihm durchdringende Töne, während am Schluss im Hintergrund die aufgehäufte Erde in Flammen steht. Marga Wolff