: Der Käfer kommt auf die Kufen
Der kanadische Eisschnellläufer Jeremy Wotherspoon versucht sein olympisches Trauma zu vergessen und tut dies bei der Einzelstrecken-WM mit dem Titel im 500-m-Sprint
BERLIN taz ■ Jeremy Wotherspoon (27) wusste, dass ihn auch in Berlin die Vergangenheit einholen würde. Er hat sich gegen die unheimliche Begegnung gewappnet. „Das spielt jetzt keine Rolle mehr“, sagt der kanadische Sprinter wie aus der Pistole geschossen, „ich versuche, nicht mehr daran zu denken und die Erinnerung daran wegzudrücken.“ Das ist seine Standardantwort auf das Debakel von Salt Lake City, das er sehr anschaulich in die Worte fasst: „Als das Eis unter mir brach.“
Über 500 Meter ging er damals als Favorit auf die Bahn, der Startschuss fiel, Wotherspoon hetzte los, doch er kam nur fünf Schritte weit, dann verhakte sich ein Schlittschuh. Er landete auf dem Eis wie ein blutiger Anfänger, der nicht Herr seiner Motorik ist. Stürze passieren wegen der hohen Fliehkräfte zumeist in den Kurven. Hinfaller auf der Geraden sind hingegen eine fatale Peinlichkeit. „Jeremy lag auf dem Eis wie ein betrunkener Käfer“, bemerkte die Süddeutsche Zeitung dazu. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Über 1.000 Meter glaubte er, die Schande tilgen zu können. Nach Zwischenbestzeit strauchelte er jedoch wieder, hielt sich nur mit knapper Not auf den Beinen und wurde 13.
In Berlin bei der Einzelstrecken-WM lief es jetzt besser. Zwar blieb Wotherspoon gestern über 1.000 m erneut unter seinen Erwartungen und wurde nur Neunter, doch ließ sich das diesmal besser verschmerzen, da er zuvor Weltmeister über die 500 m geworden war. Er habe am Training nichts verändert, ließ er danach wissen, allerdings an der mentalen Rennvorbereitung gearbeitet. Er scheint den Kampf gegen den schlüpfrigen Untergrund und die eigene Unsicherheit mit einer Flucht ins Banale bewältigt zu haben. „Kann passieren“ und „Davor ist man nie gefeit“ sind die Beschwörungsformeln, die helfen sollen.
Wotherspoon, der in Calgary trainiert, gehört zu den großen, kräftigen Sprintern, wie auch Casey FitzRandolph (USA) und der Holländer Gerard van Velde. Ein kleiner Wackler genügt, und schon ist die in harten Trainingseinheiten aufgebaute Homöostase zwischen Eis und Athlet zerstört. Wotherspoons Trainingspartner James Monson hat dieses Gleichgewicht am Freitag verloren, ist mit Tempo 50 in die Bande gerauscht und verbrachte den Rest der WM auf Krücken.
Die Bahn in Berlin-Hohenschönhausen meint es freilich gut mit den schweren Jungs, viel besser als das Höhenoval (1.300 Meter) von Salt Lake City. Die Berliner Zeiten sind deutlich schlechter, sodass technisch saubere Läufe leichter fallen. Dabei ist Wotherspoon kein Sprinter, der beim Vortrieb nur auf brachialen Krafteinsatz setzt. Er gilt als Ästhet, weswegen er die olympische Katastrophe auch nicht auf technische Unzulänglichkeit, sondern den enormen Druck zurückführt, der sich bei solch einem Großereignis aufbaut.
Offenbar ist der Wirtschaftsstudent, der sich in seiner Heimat die Zeit mit Fliegenfischen, Snowboarden und Croquet vertreibt, zu blauäugig in die olympischen Rennen gegangen. Man hat dem dreifachen Sprintweltmeister oftmals Leichtfertigkeit nachgesagt. Als prägendes Erlebnis der Spiele von Nagano gab er etwa an: „kostenloses McDonald’s-Essen“.
Und dann war da noch der Spintiseur Wotherspoon, der revolutionäre Ideen am Fließband gebar und anschließend im Sande verlaufen ließ. Sein Trainer Sean Ireland sagt, dass er an Stabilität gewonnen habe – im Leben und auf dem Eis. Er sei jetzt mehr denn je ein Sprinter mit großer Perspektive. „Er kann den Sport als das begreifen, was er wirklich ist, und die Olympia-Sache ist für ihn erledigt, auch wenn das seine Zeit gebraucht hat.“
Wotherspoon ist in Salt Lake City ins Eis eingebrochen, in Berlin ist er wieder trocken an Land geklettert. Das Eis unter seinen Kufen ist dicker geworden.
MARKUS VÖLKER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen