Von Bagdad nach Wilhelmsruh

„Frieden ist schön“, sagt der Exiliraker Ali Jindeel und demonstriert das an seiner Hauswand. Das letzte Mal hat er die Heimat 1991 im Krieg gesehen

von ANNE HAHN

Ali Jindeel streicht über seine kurz geschnittenen krausen Locken. Er streicht sich oft über den Kopf, während wir Kaffee trinken und die Sonne über den Tisch wandert. Es ist ein wunderschöner Märztag in Pankow-Wilhelmsruh. Ruhe durchzieht das Zimmer. Was Ali stockend und beinahe gepresst erzählt, hat aber wenig mit Frieden zu tun.

Seine Hände fliegen über die Stirn, den Tisch, den Kaffeelöffel. Er berichtet von seiner Reise in die Heimat, die schon einige Zeit zurückliegt. Während des zweiten Golfkrieges hat der heute 41-Jährige sein Land zum letzten Mal besucht. Illegal. Mit befreundeten Beduinen, die zwischen Jordanien und dem Irak pendeln, hat er damals die Grenze überschritten.

Ali breitet die Arme aus, um die herabschwebenden Engländer in das Sonnenlicht zu malen, die damals vom Himmel schwebten. Puff, puff, macht er, viele sind gestorben, erfroren, von den Beduinen erschlagen und ausgeraubt worden. Saddams Militär tauchte auf, Ali stand zitternd an der Bushaltestelle. Sie fragten nicht nach Papieren, sie erforschten seinen Dialekt, horchten ihn aus. Ob er Engländer sei.

Nach vier Tagen im Grenzgebiet nahm Ali den Zug nach Bagdad. Für die Strecke braucht man normalerweise vier Stunden, jetzt dauerte die Fahrt 13, 14 Stunden. Die Schienen waren zerstört. Als er am frühen Abend in Bagdad ankommt, ist die Stadt leer, keine Menschen, keine Autos, keine Bomben. Totenstille. Keine Lichter.

Ali läuft zu Fuß mehrere Kilometer durch die unbeleuchtete Innenstadt, nur zwei Passanten begegnen ihm, durch das Schwarz huschend wie er selbst. Die Hochhäuser, die Geschäfte, alles gespenstisch dunkel. Über die Brücken kann man nur noch als Fußgänger, und manchmal muss man auf schmalen Stegen darüber balancieren.

So sieht Ali, der Ölingenieur und Flüchtling, die Stadt seiner Jugend, seines Studiums wieder, das erste Mal seit 1987. Er hat noch eine kleine Wohnung in einem der abgedunkelten Wohnblocks. Zwischen Ruinen. Ein Freund hat Kerzen und Wassereimer darin bereitgestellt, aber Ali sitzt im Dunkeln und traut sich nicht, Licht zu machen. Nachbarn, die misstrauisch werden könnten, sind längst weg. Es gibt keine Regierung, keine Parteien, keine Miliz. Die Stadt ist sich selbst überlassen.

In den Siebzigerjahren floh ein Onkel Alis aus dem Irak, wichtiges Wissen über die Staatsbank im Gepäck. Die Sippenhaft ereilt die gesamte Familie, zwei Onkel werden zum Tode verurteilt, die Familie zersplittert in alle Himmelsrichtungen. Alis Mutter lebt einige Jahre in Beirut, bevor sie sich mit ihrem Mann in den USA niederlässt. Ali studiert, arbeitet noch einige Monate als Ingenieur und drückt sich vor dem Militärdienst, bis er als „politisch unzuverlässig“ das Land verlassen muss und nach Jordanien zieht. Hier fängt er an zu malen, Mode zu entwerfen. Er hat Ausstellungen in Marokko und Jordanien, einige Monate arbeitete er als Wasserbohringenieur im Sudan. So vergeht die Zeit. Ein Jahrzehnt später muss Ali Jordanien verlassen, als Illegaler, ohne gültigen Pass. Auf dem Weg nach Kanada bleibt er in Deutschland hängen, Frankfurt am Main, Aschaffenburg, Nürnberg. Berlin.

„Ich kann nicht mehr zurück in den Irak, ich habe keine Freunde dort, das wäre für mich wie Casablanca oder Amsterdam …“ Ali lächelt und legt den Kopf etwas schief. Zärtlich streichelt er seinen rumänischen Keramiktopf, in dem der Kaffee kalt wird. „Im Gegenteil, ich finde mich schlechter ein in den arabischen Ländern, ich kann sprachlich kommunizieren, aber es gibt kein wirkliches Verständnis mehr, keine gemeinsame Kultur. Es ist auch viel schwieriger für mich geworden, mit Irakern hier zu reden, extrem schwer. Sie haben andere Ansichten, sie wollen, dass Saddam verschwindet, haben aber auch keine Lösung für die Frage, was nach Saddam kommt.“

Ali spricht schneller, erregt sich, die Augen funkeln. „Alle arabischen Länder haben eine Diktatur, ist Mubarak besser als Saddam? Was ist mit Marokko, dem Sudan, Saudi-Arabien? Für mich wäre es die beste Lösung, wenn Saddam bleibt, wenn er unter Druck gesetzt wird und langsam die Demokratie einführt. Wenn die Amis Saddam wegfegen, wird das Land unkontrollierbar!“

1991 wurde Ali krank, nach ein paar Tagen im verwüsteten Bagdad. Er bekam 40 Grad Fieber, erinnerte sich an einen Freund, der Kinderarzt war, und kroch bei ihm unter. Dort war man einigermaßen geschützt. „Es war die psychische Überlastung“, sagt Ali schlicht und springt in der Erzählung weiter. Auf dem Rückweg nach Syrien hat er wieder in einer abgedunkelten Stadt festgesessen, und sich nach den nahen Lichtern Syriens gesehnt. Dort war eine Stadt, in der das Leben normal lief, lärmte, leuchtete.

Heute ist Ali froh, dass er nicht bis Kanada gekommen ist und ihn kein Ozean von seiner Heimat trennt. Wir sind in der selben Zeitzone, sagt er, „manchmal denke ich, wenn ich heute loslaufe, bin ich in drei Jahren da. Vielleicht auch eher.“ Ali schaut aus dem Fenster, vor dem sich eine entnadelte Lärche im Sonnenlicht wiegt. Er lächelt wieder. „Wenn in Bagdad die Sonne aufgeht, geht sie hier auch auf. Wie sie dort wohl aussieht? Daran muss ich oft denken …“

Frieden ist so schön, das wollte Ali zeigen. Als er Mitte Februar in Berlin zu der großen Antikriegsdemo ging, beschlichen ihn komische Gefühle. Er als Exiliraker konnte dort nicht mitlaufen, warum, kann er schwer beschreiben. „Ich habe solche Angst um alles, Basra muss evakuiert werden, Wasser und Luft sind seit dem ersten Golfkrieg vergiftet, hunderttausende Soldaten werden jetzt auf die Menschen dort gehetzt, so viele Bomben, wer soll das alles beseitigen? Alle Museen sind leer, bei uns war die Wiege der Menschheit, vieles ist noch nicht einmal ausgegraben, und nun wirft man Bomben darauf! Die armen Familien haben ihre Söhne schon im Irankrieg verloren, die Reichen habe ihre Söhne freigekauft oder ins Ausland geschickt!“

Ali hat noch eine Schwester in Bagdad. Sie hat sich wahrscheinlich schon in den Süden zurückgezogen, vermutet er. Ein Bruder kam im letzten Krieg ums Leben, die damals acht Monate alte Nichte verbrannte sich schwer bei der Explosion eines Benzintanks. „Sie hatte keine Lider mehr, um die Augen zu schließen.“ Ali schüttelt den Kopf und flüstert fast, als er erzählt, dass man sich über die Zahl der Kinder streitet, die monatlich im Irak sterben, sind es 5.000 oder 6.500?

„Frieden ist schön! Ich wollte zeigen, was man aus sich machen kann, wenn man im Frieden lebt. Was wichtig ist!“ Ali hat an dem alten, dreistöckigen Mietshaus am Ende der Hertzstraße in Wilhelmsruh, in dem er seit drei Jahren lebt, wo der S-Bahn-Damm an einem Gewerbepark vorbeiführt, seinen Kriegsprotest ausgestellt. Die bröckelnde Fassade ist mit acht kleineren, etwa anderthalb mal einen Meter großen, und einem langen, circa zwei mal acht Meter großen Banner behängt. Die Tücher aus schwarzem Stoff tanzen im leichten Frühlingswind. Auf die kleineren Tücher sind arabische Gedichte des in Paris lebenden Palästinensers Mahmut Derwisch gemalt. Sie handeln von der Schönheit des Lebens, sagt Ali. „Weißt du, wie schön es ist, einen Wohnungsschlüssel in der Tasche zu fühlen? Wenn man ein Haus dazu hat? Oder wie das Gras wächst, die Sonne scheint, wie schön unser Leben im Irak war, in den Siebzigerjahren“ Als wir alle noch gelesen haben, gelernt. Heute sind ja die Hälfte der Jugend Analphabeten, es gibt keine Bibliotheken mehr.“

Wir stehen vor dem Haus und bestaunen die schönen arabischen Schriftzüge. In Weiß, Grau und Rot sind die Zeichen gemalt, graue Ornamente bilden ein Kreuz. Die Stoffe stammen von den großen Ballen, die ordentlich gestapelt in Alis Wohnung im zweiten Stock lagern. Hier näht er, entwirft verzauberte Modelle, Jacken, Röcke und Kleider. Seine drei Katzen streichen durch den Garten hinter dem Haus.

Ein Windstoß fährt unter die mit Wäscheleinen angebrachten Transparente. Das lange Tuch in der Mitte zeigt den gemalten Umriss des Irak und die Adresse der Großmutter Alis in lateinischen Buchstaben. „Sahra, Ur, wo die Straßen keinen Namen haben.“