Platz für das Neue

Live mit Piano-Begleitung im Metropolis: „Im Frühling“ des sowjetischen Avantgardisten und Vertov-Bruders Mikhail Kaufman. Im Anschluss zwei Dokumentarfilme über die drei Gebrüder Kaufman

Mikhail Kaufman ist Der Mann mit der Kamera. Im gleichnamigen sowjetischen Avantgarde-Klassiker (1929) fungiert er unter der Regie seines Bruders David Kaufman aka Dziga Vertov als Hauptakteur und Kameramann zugleich. Er stellt in diesem elektrisierenden Montage-Feuerwerk aber niemanden dar, sondern wird beim Filmen gefilmt. Eine selbstreflexive Inszenierung des Ansatzes der Gruppe Kinoki („Kino-Auge“) der Gebrüder Kaufman, die sich gegen das „psychologische Gift“ des fiktionalen Films wandte und die Welt so zeigen wollte, wie sie ist. Dziga Vertov erlangte cineastischen Weltruhm. Der dritte Bruder Boris wurde Kameramann von Jean Vigo und später in Hollywood Oscar-prämiiert. Mikhail dagegen blieb außerhalb von Expertenkreisen eher unbekannt. Das Metropolis zeigt nun mit Im Frühling (1929) ein eigenes Werk von ihm.

Der Film ist ähnlich wie Der Mann mit der Kamera ein Stummfilm-Bilderbogen aus verschiedenen Lebensbereichen. Nur folgt er nicht dem Phänomen des Tagesablaufs, sondern dem einer Jahreszeit. Kaufman montiert Bilder von schmelzendem Eis, schwellenden Flüssen, Baustellen, fortpflanzungsfreudigen Schnecken, Sport und Spiel sowie von den im Sowjetkino unvermeidlichen Traktoren bei Herstellung und Einsatz. Der Frühling als produktive Entfesselung der Elemente, der Arbeit, der Freude. Er ist, das liegt nahe, eine Allegorie der Revolution. Er macht Schluss mit dem Alten und Platz für das Neue. Das ist typisch postrevolutionäre Rhetorik, aber ungleich subtiler umgesetzt als etwa in Eisensteins Die Generallinie (ebenfalls 1929). Dass dieser Prozess gleichzeitig gewaltsam ist, zeigen Hochwasser, die Dörfer überschwemmen, oder auch Bilder eines schwindenden Schneemanns, der beim Schmelzen groteske Leidensmienen schneidet.

Als Höhepunkt des Films wird das Alte schließlich explizit vorgeführt. Finstere Gestalten läuten im Kirchturm die Osterglocken: die christliche Version des Frühlingskults. Wie Marionettenspieler ziehen sie an den Stricken und streuen ihr Opium unters Volk. Dieses jedoch marschiert in einem Fahnenumzug an der Kirche vorbei und verspottet seine Verführer. In die rhythmische Sequenz sind disparate Bilder von Fressalien und Osterzubehör geschnitten. Hier kommt der ansonsten unspektakulärere Im Frühling der formalen Virtuosität und Dichte von Der Mann mit der Kamera am nächsten. Auf den spielt er übrigens gelegentlich an, so zeigt er häufiger den Schatten eines Kameramanns mit Stativ.

Der klassenkämpferische Gegensatz Kirche-Volk wirft die Frage nach der Objektivität des Kinoki-Ansatzes auf. Ist diese „Organisation der Welt“ (Dziga Vertov) nicht doch eine Inszenierung auf der Metaebene und somit ideologisch? Durchaus, und die vermeintliche Wissenschaftlichkeit dieser Ideologie, des Marxismus, ändert daran ebenso wenig wie Vertovs Glaube an den Tatsachencharakter der so konstruierten „Film-Fakten“. Aber indem die Montage als formales Mittel erkennbar bleibt, überlässt sie die Deutung dem Betrachter, ohne ihn mit unterschwelligen Psychologismen oder mit purer Ästhetik à la Riefenstahl zu überwältigen.

Kein Wunder, dass die Mächtigen die Kinokis bald satt hatten und ihnen „Formalismus“ vorwarfen. Obwohl Kaufman statt Riefenstahl‘scher Siegerkörper lieber den spielerischen Flug der Fußballkugel zeigt, paradieren allerdings auch bei ihm die Turnerinnen zum Schluss in Reih und Glied.

Dass sich Bruder Vertov dem Totalitarismus letztlich nicht entziehen konnte, zeigt dann neben anderem eine recht essayistisch gehaltene Dokumentation über die drei Brüder, Operator Kaufman. In Drei Lieder für Lenin (1934) montierte Vertov von Stalin inzwischen erschossene Genossen willfährig heraus. Das war dann die Selbstdemontage der Montage. Jakob Hesler

Im Frühling mit Live-Musik (Ulrich Jodjo Wendt + Anne Wiedmann): Freitag, 20 Uhr; All the Vertovs + Operator Kaufman (Gast: Rasmus Gerlach, Einführung: Thomas Tode): Freitag, 21.15 Uhr, Metropolis