Konzept, Zufall, Ironie

Zeitlos: Endlich wird das aufgearbeitete filmische Gesamtwerk der Berliner Künstlergruppe Die Tödliche Doris gezeigt – ein ganzer Ideen-Steinbruch

von CLAUS LÖSER

Helgoland, die berühmte Nordseeinsel. Unter Wilhelm II. und unter Adolf Hitler zwei Mal als Flottenstützpunkt ausgebaut, zwei Mal zerstört. Nach dem letzten Krieg von der britischen Luftwaffe als Bombodrom benutzt. Ein auch musikalisch geschichtsträchtiger Ort. 1841 schrieb hier August Heinrich Hoffmann von Fallersleben den Text zum „Lied der Deutschen“, das mit der Melodie von Joseph Haydn später als „Deutschlandlied“ bekannt wurde.

Am 23. Juli 1983 setzt die Berliner Band Die Tödliche Doris mit einem Kreuzfahrtschiff namens „Funny Girl?“auf das Eiland über, postiert sich auf dem höchsten Punkt der Insel und beginnt, mit Trommel, Akkordeon und Gesang Stücke aus ihrem Repertoire zu intonieren: Käthe Kruse, Wolfgang Müller, Nikolaus Utermöhlen und Tabea Blumenschein, als Tonmeister Blixa Bargeld, an der Kamera Ades Zabel. Die Musik wirkt statuarisch, irgendwo zwischen Moritatengesang, Neo-Dada-Post-Punk und dem späten Paul Dessau. Der Wind zerzaust Haar und Kleider der Künstler, verwirrte Touristen bleiben kurz stehen und gehen dann weiter. Unbeirrt wird das Programm bis zur Rückfahrt des Kahns fortgesetzt.

Der Kurzfilm „Open Air Helgoland ’83“ vereint alle Tugenden der insgesamt 38 Arbeiten, die jetzt erstmals in so kompakter Form, in drei Blöcken zu sehen sind. Zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung wirken die Filme frisch wie am ersten Tag. Sie leben vor allem von ihrer reichen historischen, ästhetischen und politischen Subtextuierung sowie dem hohen Maß an Selbstironie. Das Super-8-Format erscheint dabei als ideales Medium: Mit seinen technischen Unzulänglichkeiten macht es den Faktor Zufall zum gleichberechtigten Gestaltungsmoment, ganz im Sinne John Cages oder William S. Burroughs’. Durch den hohen Abnutzungswert in Form von Laufstreifen und Schrammen gewinnt das Material schnell an Patina – ein Effekt, der von keinem Computer der Welt authentisch simuliert werden kann. Bei aller Improvisation werden die zur Verfügung stehenden Mittel jedoch stets so perfekt gehandhabt, wie es eben ging; schludrig gedreht wirken diese Filme nie. Es schlägt dabei zu Buche, dass es sich bei Die Tödliche Doris um ein strikt synästhetisch angelegtes Projekt handelte. So wenig die Künstler im herkömmlichen Sinne als Musiker Karriere machen wollten, so wenig war ihnen an der klassischen Etablierung auf dem Kunstmarkt gelegen. So fern lag es ihnen auch, „richtige Filme“ zu drehen. Nicht ein kalkulierbarer Wirkungseffekt stand dabei im primären Interesse, sondern das Unvorhersehbare.

Ein schönes Beispiel für das Zusammenspiel von Konzept, Zufall und ironischer Brechung liegt mit dem „Städtefilm München“ (1983) vor. Es gehörte zwischen 1982 und 1984 zum Usus der Liveauftritte von Die Tödliche Doris, vor dem eigentlichen Konzert jeweils einen kurzen Film über die Stadt des Gastspiels zu zeigen. Dieser Film musste von den Veranstaltern selbst gedreht werden, wurde mit einem Kommentar versehen und fand nach seiner einmaligen Vorführung Eingang ins Oeuvre der Künstlergruppe. Insgesamt entstanden auf diese Weise achtzehn Filme über sechzehn Städte. Für den Auftritt im legendären Werkstattkino München griff 1983 Doris „Dolly“ Kuhn zur Kamera. Offenbar hatte sie während des Drehens vergessen, den Objektivschutz abzunehmen, so dass auf den zwei Rollen Film nicht der Hauch auch nur eines Bildes zu erkennen war. Am Telefon unterhielten sich Kuhn und Müller über das Missgeschick – das Gespräch wurde mitgeschnitten und diente dann in München als Soundtrack für sechs Minuten Schwarzfilm, der unerbittlich auf die Leinwand projiziert wurde.

Unter den fast vierzig Kurzfilmen, die während der sieben Jahre (1980–1987) währenden Existenz von Die Tödliche Doris entstanden sind, befinden sich perfomative („Wasserballett“) und narrative („Das Leben des Sid Vicious“) Arbeiten, Animationen („Die Gesamtheit allen Lebens und alles Darüberhinausgehende“), Doku-Fakes („Energiebeutel und Zeitblase“) und Konzertmitschnitte („Live“). Auch das abwegige Genre des Fotofilms bedienten Wolfgang Müller und seine KollegInnen: „Material für die Nachkriegszeit“ (1980) besteht aus Passbildern, die aus Abfallbehältern von in U-Bahnhöfen aufgestellten Fotoautomaten gefischt wurden. Neben einer Reihe wechselnder, mitunter zerrissener und neu zusammengesetzter Porträts wiederholt sich immer wieder das Bild eines ernst dreinblickenden Mannes: vermutlich zu Testzwecken angefertigte Aufnahmen eines Automatenwarts. Kommt einem das nicht irgendwie bekannt vor? Vermutlich ist Erfolgsregisseur Jean-Pierre Jeunot („Die wunderbare Welt der Amélie“) auch ein alter Fan von Die Tödliche Doris.

Heute, 21 Uhr, morgen, 19 Uhr, Arsenal, Potsdamer Str. 2, Tiergarten