Baustelle der Demokratie

„Sind wir Bürger Europas“, fragt Etienne Balibar und fordert: Statt die Grenzen immer besser zu sichern, muss neu über Einbürgerungen geredet werden

von MARK TERKESSIDIS

Nach dem Ende des realexistierenden Sozialismus und dem emphatischen Abschied von den Utopien gab es im Westen Bestrebungen, das Projekt der Linken auf das Feld der „radikalen Demokratie“ zu verlegen. Im Zentrum standen die demokratischen Mitwirkungsmöglichkeiten – also das Konzept der Citizenship oder der Citoyenté. Ein Protagonist dieser Debatte in Frankreich war Etienne Balibar. Der 1942 geborene Balibar war in den Sechzigerjahren ein Mitarbeiter des Philosophen Louis Althusser und hatte mit diesem zusammen das legendäre Seminar erarbeitet, das später unter dem Titel „Das Kapital lesen“ zum Klassiker der strukturalistischen Variante des Marxismus wurde. Danach entwickelte sich Balibar zu einem undogmatischen Linken, der den Versuch unternahm, den Erkenntnisrahmen der marxistischen Theorie zu erweitern – vor allem in Bezug auf die Themen Nationalstaatlichkeit und Ethnizität. Sein neues Buch „Sind wir Bürger Europas?“ knüpft sowohl an seine Thesen zum Nationalstaat als auch an die etwas maue Diskussion über Bürgerschaft an.

Die zuletzt genannte Diskussion erfasste in den Neunzigerjahren auch Deutschland – hier lautete das Stichwort „Zivilgesellschaft“. Freilich blieb dieses Konzept stets ein wenig steril und abstrakt, was vor allem daran lag, dass die Citizenship, zu deutsch „Staatsbürgerschaft“, ein blinder Fleck in dieser Debatte blieb. Tatsächlich gibt es in der Bundesrepublik nur die passive Institution der Staatsangehörigkeit, die auch mit der Reform von 1999 erhalten blieb – eine aktive Vorstellung von Staatsbürgerschaft fehlt. Exakt um diesen blinden Fleck kreist das neue Buch von Etienne Balibar, wobei es ihm in erster Linie um ein „Projekt aktiver europäischer Bürgerschaft“ geht. Gerade jetzt, da der europäische Verfassungskonvent intensiv arbeitet, ist sein Buch eine aktuelle Lektüre.

Zwar stammen die Texte in seinem Buch aus der Zeit vor dem Konvent, doch Balibar wirft zu Recht Fragen auf, die der Konvent angesichts seiner Praxis bereits als gelöst betrachtet. Wie er schreibt, steht Europa nämlich vor dem großen Problem, dass sich der typisch europäische Begriff der Souveränität auf Europa selbst gar nicht anwenden lässt. Denn was ist eigentlich die verfassunggebende Gewalt auf europäischer Ebene? Oder konkreter formuliert: Was ist das Volk Europas? Eine wirkliche demokratische Neubegründung Europas hat es abgesehen von allerlei administrativen Übereinkommen letztlich nicht gegeben.

Balibar betrachtet Europa als eine „Baustelle der Demokratie“, aber er macht keine Vorschläge für formelle Regelungen. Denn ihm geht es um eine „materiale Verfassung“. Sein Buch handelt von den realen Kräften und Gegenkräften: von den Ausschließungsprozessen, den Folgen der Globalisierung und den Gegenbewegungen wie etwa den „Sans Papiers“. Aus diesem Amalgam versucht Balibar, Ansätze für eine Neukonzeption der Bürgerschaft zu entwickeln.

Das Thema Ausschließung zieht sich dabei wie ein roter Faden durch das Buch. Denn jedes Konzept einer europäischen Staatsbürgerschaft steht, wie er meint, vor der grundsätzlichen Wahl: Entweder verlagert es den Schwerpunkt eher auf eine neue Form der nationalen Zugehörigkeit oder auf die emanzipativen Anteile, also die Menschen- und Bürgerrechte. Bislang ist die europäische Staatsbürgerschaft klar exklusiv, wie Balibar zeigt, da sie zu einer neuen Form der Apartheid geführt hat. Der Ausschluss von so genannten Drittstaatsangehörigen (in Deutschland etwa die türkischen Staatsangehörigen) aus dem Kreis der Bürger schafft nach seiner Auffassung „eine erniedrigte Bevölkerung, die dauerhaft ‚auf der Grenze‘ – nie ganz innerhalb, die ganz außerhalb der Staatsgrenzen – leben muss“.

Welche Forderung ergibt sich nun aus solcher Exklusivität? Möglicherweise jene nach offenen Grenzen? Nein, sagt Balibar. Denn die Forderung nach „offenen Grenzen“ würde mit den sozialen Rechten der europäischen Bürger kollidieren: Offene Grenzen bedeuten eben mehr Neoliberalismus und noch schärfere, unkontrollierte Ausbeutung. Daher kann es seiner Meinung nach nur darum gehen, die Grenze zu demokratisieren.

Momentan, betont Balibar, werden die Grenzen vom Staat dazu benutzt, eine Souveränität zur Schau zu stellen, die in Wirklichkeit längst prekär geworden ist: So dient der institutionelle Rassismus oder die „Festung Europa“ vor allem dazu, der staatlichen Ohnmacht angesichts der allgegenwärtigen Mobilität quasi theatralisch entgegenzuwirken. Dagegen müsste der Grenzübertritt, und das betrifft natürlich auch die Frage der Einbürgerung, vielmehr zu einem Gegenstand des Aushandelns werden – zwischen dem Staat und den Betroffenen, etwa den Drittstaatsangehörigen, den Flüchtlingen und den „Sans Papiers“. Erst dieser Prozess würde ein halbwegs gerechtes Reise- und Aufenthaltsrecht ermöglichen.

Wie bereits gesagt: Angesichts der derzeitigen Debatten um die Arbeit im europäischen Verfassungskonvent kommt die Veröffentlichung von Balibars Buch gerade recht. Insbesondere im deutschen Kontext sind seine Gedanken zu einer „Bürgerschaft in Europa“ durch und durch lesenswert. Allerdings handelt es sich bei „Sind wir Bürger Europas?“ um eine nach Themen organisierte Sammlung von weitgehend unbearbeiteten Aufsätzen, die leider voll ist mit Wiederholungen.

Anfang der Neunzigerjahre hatte Balibar angekündigt, nun kleine Bücher im Umfang von 150 Seiten schreiben zu wollen. Exakt diese Längenvorgabe wäre dem Buch gut bekommen. Das jedoch hätte eine wenig mehr Mühe aufseiten Balibars vorausgesetzt, die eigenen Gedanken noch mal neu zu systematisieren. Zumindest den Vorwurf der Faulheit kann man dem Autor daher wohl am Ende nicht ersparen.

Etienne Balibar: „Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen“. Aus dem Französischen von Holger Fliessbach und Thomas Laugstien. Hamburger Edition 2003, 296 S., 25 €