Schlag mich so hart, wie es geht

Neuigkeiten aus dem Fight Club: Mit „Flug 2039“ erscheint endlich wieder ein Roman des amerikanischen Schriftstellers Chuck Palahniuk in deutscher Übersetzung

von KOLJA MENSING

Es ist einer dieser Zufälle. Tender Branson liest einen Zeitungsartikel über eine Beratungsstelle für Krisensituationen. Er stellt fest, dass sich in den Text ein Druckfehler eingeschlichen hat, der aus der angegebenen Nummer seine eigene macht. Es dauert nicht lang, und Tender Branson bekommt jede Menge Anrufe von Menschen, denen es schlecht geht. Einigen von ihnen geht es sogar so schlecht, dass sie sich am liebsten umbringen würden.

Da ist zum Beispiel der junge Mann, der sich den Lauf eines Gewehrs unters Kinn hält. Mitten in der Nacht fleht er den vermeintlichen Telefonseelsorger an, er möge ihm einen einzigen Grund nennen, weiterzuleben. Tender Branson sagt: „An der Welt ist eigentlich gar nichts dran.“ Er sagt: „Tu es.“ Und: „Mach schnell, bevor ich wieder einschlafe, drück ab.“

Tender Branson ist sich vollkommen sicher, dass er alles richtig macht. „Menschen wollen sterben: wegen schlechter Noten in der Schule. Wegen Streitigkeiten in der Familie. Wegen Problemen mit Freunden. Wegen ihrer schäbigen kleinen Jobs.“ Und weil die Anrufe, die der Zeitungsartikel nach sich gezogen hat, mit der Zeit weniger werden, lässt er nun Aufkleber mit seiner Telefonnummer drucken: „Gib mir und deinem Leben noch eine letzte Chance. Ruf mich an, ich kann dir helfen.“

Dabei müsste sich Tender Branson, die Hauptfigur in Chuck Palahniuks Roman „Flug 2039“, eigentlich erst einmal selbst umbringen. Nach einem religiösen Massenselbstmord ist er der einzige Überlebende einer weltabgewandten Sekte – und getreu den Überzeugungen seiner Gemeinschaft und ihrem apokalyptischen Programm müsste auch er sich jetzt eine Überdosis Schlaftabletten anrühren, die Pulsadern aufschneiden oder eine Schusswaffe zur Hand nehmen. Er tut es nicht. Nachdem die Sache mit seiner Sekte und ihrem Selbstmord bekannt geworden ist, erklärt ihm ein findiger Agent nämlich, wie er aus seiner Geschichte Kapital schlagen kann. Tender Branson soll zum religiösen Superstar aufgebaut werden, mit 01 90-Segens-Hotline, spirituellen Übungsvideos und eigener Fernsehshow.

„Flug 2039“ ist also zunächst eine böse Satire auf die künstlichen Heilsversprechen und medialen Erlösungsversuche, die die Gegenwart für uns bereithält. Die Talkshows, die zur öffentlichen Beichte werden. Die Anti-Aging-Programme, die praktizierende Wellnessjünger wie Rosenkränze herunterbeten. Die Ratgeberindustrie, die mit immer neuen Problemen und Lösungsstrategien die Nachfrage der Leidenshungrigen befriedigt.

Das irdische Dasein ist ein Jammertal: Diese mittelalterliche Weltsicht mit ihrer tiefen Sehnsucht nach Erlösung findet Chuck Palahniuk mehr oder weniger ungebrochen in der Gegenwart wieder. Es ist kein Wunder, dass in den Romanen des 41-jährigen amerikanischen Schriftstellers Selbsthilfegruppen eine wichtige Rolle spielen. Hier treffen sich die Anhänger der modernen Leidensreligion im Wochenrhythmus wie zu einem Gottesdienst, das 12-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker ist zum Modell einer zeitgenössischen Liturgie geworden.

Vielleicht ist einigen noch der Anfang von David Finchers Film „Fight Club“ in Erinnerung, der auf Palahniuks gleichnamigem Roman basiert: Begeistert nimmt der (kerngesunde) Erzähler an den Treffen der Hodenkrebspatienten oder der Opfer von Gehirnparasiten teil und badet so im Leid anderer Menschen. In „Der Simulant“ – neben „Flug 2039“ übrigens als einziger von Palahniuks fünf Romanen in deutscher Übersetzung erhältlich – steht eine Gruppe von anonymen Sexsüchtigen im Mittelpunkt, die sich im Grunde genommen jedoch gar nicht von ihren Problemen frei machen wollen. – Thanks for sharing. Es lebt sich gar nicht so schlecht mit dem eigenen Leid.

Das meint auch Tender Branson: „Bei all den künstlichen Problemen, die sie mir anhängte, brauchte ich mir wegen der wirklichen Probleme keinen Stress zu machen“, fasst er in „Flug 2039“ die Bemühungen einer Sozialarbeiterin zusammen, die ihn bei der Flucht aus dem spirituellen Gefängnis seiner Sekte therapeutisch begleiten soll. Posttraumatische Störung, Agoraphobie, Panikattacken, dissoziative Identitätsstörung: „Sie erläuterte mir die Symptome, und ich tat mein Bestes, ebendiese Symptome zu entwickeln.“

Das sind scharfsinnige Beobachtungen. Und es ist nicht ohne Ironie, dass Chuck Palahniuk „Flug 2039“ eine Danksagung vorausschickt, mit der er auch seine eigene Produktion in den alltagsreligiösen Zusammenhang der Selbsthilfegruppen stellt. Zu ihnen gehört ja zumindest in Teilen auch die Bewegung des Creative Writing, und: „Ohne den Tuesday Night Writer’s Workshop in Suzys Haus würde es dieses Buch nicht geben. – Wer hat heute Abend etwas vorzulesen?“

Palahniuk versteckt seine Herkunft aus der Tradition des Creative Writing auch sonst nicht. Er setzt all die Hilfsmittel ein, mit denen sich nach gängiger Lehrbuchmeinung eine Geschichte heutzutage beinahe wie von selbst erzählt. Es funktioniert: Palahniuk schreibt im schnellen Präsens, seine Dialoge sind pointiert und witzig, und er beginnt sämtliche Romane mit einem viel versprechenden Ausblick auf den meist ziemlich blutigen und actiongeladenen Showdown. In diesem Fall ist das ein in die Länge gezogener Flugzeugabsturz, der Tender Branson gerade noch Zeit gibt, seine Geschichte in den Blackbox-Recorder zu diktieren – kreatives Schreiben unter Extrembedingungen.

Mithilfe der Aufzeichnung des Flugschreibers wird seine Geschichte in kürzester Zeit über die medialen Netzwerke eine größtmögliche Zuhörerschaft finden. – „Das Wort ist ein Virus“, hat William S. Burroughs einmal gesagt. Chuck Palahniuk macht aus der dunklen Seite dieses Jahrhundertsatzes einen Roman nach dem anderen. Er lässt Tender Branson in „Flug 2039“ seine Lebensbeichte genauso zielstrebig verbreiten wie zuvor seine tödlichen Ratschläge über die Telefonleitung. In seinem misstrauisch beäugten Debüt, „Invisible Monsters“, hat Palahniuk einen Zusammenhang zwischen der Struktur des sich ständig verändernden Aidsvirus und den Selbstvermarktungsstrategien der Gegenwart hergestellt, in „Fight Club“ infiltrieren die Faustkampfgruppen unter der Leitung von Tyler Durdon den Organismus der Gesellschaft – und in seinem letzten, nicht weniger krassen Roman, „Lullaby“, wird die Wirkungsgeschichte eines mysteriösen Schlafliedes erzählt, mit dem Mütter ihre Babys in den Tod singen.

Die deutsche Übersetzung von „Invisible Monsters“ und „Lullaby“ steht noch aus. Keine Ahnung, ob man sich wirklich darauf freuen sollte. Die Grundlage für einen so genannten gemütlichen Leseabend sieht anders aus. Das hier sind gemeine, makabre und zynische Romane. Man liest so etwas nicht gerne – aber man liest es trotzdem. Chuck Palahniuk ist momentan vielleicht der beste Beweis dafür, dass einem diejenigen Bücher am liebsten sind, die am meisten wehtun. Was sagt Tyler Durdon noch gleich am Anfang von „Fight Club“? „Ich möchte, dass du mich so hart schlägst, wie es nur eben geht.“

Thanks for sharing.

Chuck Palahniuk: „Flug 2039“. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Goldmann, München 2003, 360 S., 8,90 €