Der Krieg reißt die Schüler von den Bänken

Das Peace-Zeichen auf dem Gesicht und dem T-Shirt: Über 50.000 Schüler streiken am Tag X und gehen auf die Straße. Einige Schulen kommen geschlossen zur Demonstration auf dem Alexanderplatz, andere verbieten Teilnahme

„Gehst du noch mal in die Schule“, fragt eine Brünette in der U 8 ihre Freundin. Und wie lange dauert so eine Demo eigentlich? Der Zug hält. Aus allen Wagen gleichzeitig strömen aufgeregte Schüler mit Trillerpfeifen, ein dicker Wust drängt zum Ausgang. Viele fassen sich an den Händen, damit sie sich im Gedränge nicht verlieren. Draußen auf dem Alexanderplatz wartet ein überwältigendes Bild. Tausende laufen zur Mitte des Platzes, die Weltzeituhr ist von einigen mutigen Kletterern schon besetzt worden. Viele haben das Peace-Zeichen ins Gesicht oder auf das T-Shirt gemalt. Rufe, Plakate, Transparente: „Make tea, not war“ oder „Wir wollen euren Krieg nicht!“.

Der Schülerprotest ist perfekt organisiert. Sogar eine Pressesprecherin hat die Gruppe „SchülerInnen gegen Krieg/Widerstand international“ benannt. Vivien Hellwig hat beobachtet, dass Schüler durch militärische Konflikte wie den Irakkrieg zunehmend politisiert werden und einen Zusammenhang zwischen Rüstungs- und Bildungsetat herstellen: „Wir sitzen zu 35 in einer Klasse und abeiten mit Büchern, in denen die DDR noch existiert. Wie sollen wir da später auf dem Arbeitsmarkt bestehen?“

Die 17-jährige Lee war schon bei Demos gegen den Irakkrieg dabei. Mit ihren Freunden Luzi und Rafael ist sie aus Charlottenburg zum Alex gekommen. „Hilflosigkeit“, sagt Rafael, sei das, was Jugendliche wie er jetzt empfinden, am Tag X. Lee meint: „Die Bundesregierung hätte mehr gegenhalten müssen. Schließlich gehen Leben drauf.“ Als sie zur Demo wollten, hätten ihre Lehrer sie unterstützt, erzählen sie.

Bildungssenator Klaus Böger (SPD) hatte am Mittwoch durch seinen Sprecher verlauten lassen, es sei „die Entscheidung jeder einzelnen Schule, ob sich Schüler während des Unterrichts an Demonstrationen beteiligen dürfen.“ Einige Schulen wie das Herder-Gymnasium in Lichtenberg oder die Gerhart-Hauptmann-Oberschule in Köpenick machten sich daraufhin geschlossen auf zum Alexanderplatz. Andere erlaubten die Teilnahme erst ab Klasse 10. Egal ob Ost- oder Westberlin, Haupt- oder Oberschule: Aus Dahlem, Charlottenburg, Treptow und Hellersdorf strömten die jugendlichen Teilnehmer. Zwölfjährige aus der siebten Klasse und Fachoberschüler über zwanzig vereint das gleiche Ziel: Sie wollen ein Zeichen gegen den Krieg setzen.

„Buck Fush“, ruft eine Gruppe Steppkes. Sechs bis 14 Jahre alt sind die Schüler der Freien Schule Pankow. „Ich finde Krieg scheiße, deswegen bin ich hier“, sagt Lino, neun Jahre alt. Den „Buchstabendreher“ bei „Buck Fush“ erklären Vicky, Jule und Lena: „Wir wollen nicht unhöflich sein.“ Jamila Malik hat Angst, dass der Krieg die Kinder trifft. Zur Demo ist sie mit ihrem neun Monate alten Sohn Justin gekommen. „Ich hab mit Freundinnen telefoniert. Alle haben geweint.“

Kurz nach 11 Uhr geht es los. Über 50.000 Menschen drängen sich auf dem Alexanderplatz, meldet die Polizei. Die Menge bewegt sich Richtung Karl-Liebknecht-Straße und Unter den Linden. „Auf zur amerikanischen Botschaft“, haben einige gerufen. Die Demonstranten sind euphorisch, laufen schnell und formieren sich zu dicken Trauben. Die Polizei sperrt ab. Es kommt zu Staus.

Viele haben von Mitschülern erfahren, dass seit dieser Nacht Krieg im Irak herrscht, die Eltern haben sie mit der Nachricht geweckt oder das Radio hat es zum Frühstück erzählt. „Wir sind voll gegen den Krieg“, ruft der 16-jährige Sebastian als Statement über die Straße. Sein Kumpel Niko meint: „Die hätten die Waffeninspektionen noch ausweiten können.“ Religionslehrerin Anette Nouri blickt stolz über ihre Schüler. Die Nikolaus-August-Otto-Hauptschule in Steglitz ist geschlossen zur Demo gekommen. Im Unterricht war der Irakkrieg Thema, erzählt Nouri: „Die Jugendlichen waren betroffen und haben geweint, heute sind viele in Schwarz gekommen.“

An der Humboldt-Uni steht der Verkehr still. Touristen stehen vor den Bussen und machen Fotos. Der Fahrer der Linie 100 bleibt gelassen: „Demos haben wir hier so oft.“ Dann muss er einem Kollegen helfen, dessen Wagen zu verteidigen. Ein Werbebanner darauf zeigt Schröder, Fischer und Bush, so als würden sie hintereinander im Bus sitzen. Reihenweise rennen Jungs hin, bespucken Bush. Auf dem Asphalt bildet sich eine Pfütze.

JULIANE GRINGER, INA KÖHLER

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