Ignoranz trifft Babys und Alte

Der AWO-Sozialbericht kritisiert: In Deutschland wird Zuwanderung verwaltet, nicht gestaltet. Die Folgen: Jedes Jahr sterben ein Drittel mehr ausländische Säuglinge als deutsche – und im Rentenalter werden Einwanderer leichter zu Pflegefällen

aus Berlin SUSANNE KLINGNER

„Deutschland ist ein Einwanderungsland, aber Einbürgerung findet praktisch nicht statt.“ Zu diesem Ergebnis kommt die Arbeiterwohlfahrt (AWO) in ihrem Sozialberichts 2002. AWO-Bundesvorsitzender Manfred Ragatis verteilte gestern die Schuld gleichermaßen auf die Bundesregierung, die zu wenig für Integration tue, und die Opposition, die ein Zuwanderungsgesetz im Bundesrat mit „Forderungen aus der migrationspolitischen Steinzeit“ blockiere.

Die Folgen seien gravierend, wie sich besonders in der medizinischen Versorgung zeige. So liegt die Säuglingssterblichkeit bei Migrantenbabys um 29 Prozent höher als bei deutschen. Von 1.000 lebend geborenen ausländischen Kindern starben im Laufe des ersten Lebensjahres durchschnittlich 5,8 Kinder, bei deutschen 4,5. Zu den Gründen zählten etwa Untergewicht bei der Geburt, die schlechte soziale Lage ausländischer Mütter und fehlende Schwangerenvorsorge.

In Deutschland, so die AWO, werde Migration verwaltet und nicht gestaltet. Ebenso wie bei der Gesundheitsversorgung kritisiert die AWO auch Mängel im deutschen Bildungssystem. Kinder und Jugendliche aus ausländischen Familien haben niedrigere Schulabschlüsse. Außerdem nutze nur ein Drittel aller ausländischen Jugendlichen die duale berufliche Ausbildung. Bei einheimischen Jugendlichen sind es zwei Drittel. Noch gravierender ist der Unterschied zwischen beiden Gruppen bei den Jugendlichen ohne einen Berufsabschluss: Jeder dritte ausländische Jugendliche macht keinen Abschluss, bei den deutschen sind es nur 8 Prozent. Arbeitslosigkeit ist unter Migranten ein besonderes Problem: 17,4 Prozent sind ohne Arbeit. Außerdem wohnen sie schlechter als Deutsche und zahlen trotzdem mehr Miete, im Durchschnitt rund 50 Cent pro Quadratmeter.

Für ein Problem wird nach Einschätzung der AWO auch die steigende Zahl älterer Einwanderer sorgen: Für 2010 rechnet der Sozialbericht mit 1,5 Millionen Bürgern ausländischer Herkunft über 60 Jahre, bei ihnen sei die Pflegebedürftigkeit besonders hoch, da sie häufig von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten betroffen seien.

„Wir haben es hier mit dem größten Defizit der deutschen Innenpolitik seit Bestehen der Bundesrepublik zu tun“, sagte Ragati. „Anders als in anderen Ländern schnüren wir keine Willkommenspakete, sondern konfrontieren Zuwanderer mit Katalogen der Abschreckung.“