Das Wort zum Sonnabend
: Gespeicherte Zeit

Tief eingetaucht ist Kristo Šagor in Bremens Mixtur aus Nordischem und Klein-Berlin. Hausautor des Theaters, holt der bundesweit gefeierte Dramatiker, Jahrgang 1976, für die taz-Bremen samstags Perlen aus dem hanseatischen Schlick.

Telefonkabel, die sich zu mäandernden Schlaufen verzwirbeln, sind ein Gräuel. Variante 1 (schlimm): zehn Meter wundervolles schwarzes Kabel verknotet und verkürzt zu einer Folge müder Schlingen. Variante 2 (schlimmer): zwei Meter Kabel zusammengezogen zu einem unglaublich hässlichen Knotengewächs, das an die nicht nur feministische Weisheit denken lässt, der unerigierte männliche Penis sehe aus wie verstrahltes außerirdisches Gemüse.

Es ließe sich im Sinne strenger Funktionalität argumentieren, dass die Verdrehung des Kabels den Bewegungsradius des Telefonierenden einschränkt. Es ließe sich spekulativ anmerken, dass solche Knoten zu Kabelbrüchen führen können.

Aber die einfache Wahrheit ist: Eine neurotische Struktur lässt mich nicht in Ruhe. Ich sehe das leidende Kabel und muss handeln. Bei mir zu Hause schafft schon eine einzige locker geworfene Schlinge Handlungsbedarf. Bei Freunden liegt die Hemmschwelle etwas höher, und ich muss erst ran, wenn zwei, drei Schlaufen entstanden sind. Bei Fremden starre ich hypnotisiert auf das schuldige Kabel und beginne ein Gespräch über Zwangsneurosen, das den Prozess des gegenseitigen Kennenlernens doch freundlich beschleunigt. Sollte der potenzielle Zeuge den Raum verlassen, stürze ich mich sofort auf das Kabel und erlöse es.

Letztens gehe ich in meiner Neustädter WG, von der noch häufiger die Rede sein wird, am Rechner meiner Mitbewohnerin S. online, und das Kabel, das das Modem mit der Telefonbuchse verbindet, ist eine einzige Katastrophe. Hurra, brüllt mein neurotischer Schulterteufel und legt sein Puzzle (5000 Teile, zumeist unbestimmte Schattierungen von Himmels- und Meeresblau) zur Seite. S. und ich machen uns daran, die Schlaufen aus dem Plastik zu streichen, ich aus der Mitte Richtung Buchse, sie Richtung Computer, und ich komme, ich weiß nicht wie, zum ersten Mal in meinem Leben auf die Frage, wie diese Schlaufen eigentlich entstehen. Ein kurzes Innehalten, und ich habe die Antwort. Beim Hin- und Hergehen drehen sich Menschen immer zur selben Richtung um, ich z.B. über die rechte Schulter. Und jeder einzelne Gang hin und zurück führt zu einer Verdrehung im Kabel. Die Schlaufen sind also gespeicherte Zeit, gespeicherte Vergangenheit. Jedes nervöse Tippeln (Kriege ich den Job?), jedes verheulte Tigern (Nein, mach bitte nicht Schluss!) ist im Kabel gespeichert.

Mein Tipp: Das Kabel nur einmal pro Jahr glattstreichen. Zweckdienlicherweise zu Sylvester oder am eigenen Geburtstag. Und dabei die Geschehnisse der Zwischenzeit Revue passieren lassen. Kristo Šagor