Die Poesie der Wortlosigkeit

Gebärdensprache eröffnet den Beteiligten eine Kultur konkreter und offener Kommunikation. Weil Nichthörende seit 1999 Anspruch auf Gleichbehandlung haben, müssen deren Lehrer sich bis zum Jahr 2007 die Gebärdensprache aneignen

von MARGRET STEFFEN

Neues Thema heute: Lieblingsessen. Wie kann man eine Suppe darstellen? Erster Versuch: schöpfen, auf Teller geben. „Nicht so“, bedeutet Lehrer Gunter. Das war wohl eher lieblos Brei auf Teller klatschen. Eleganter soll es sein. Schöpfen, das Handgelenk spielen lassen, ausgießen. Sehr schön.

In der Gebärdensprachschule „Visual Hands“ im Prenzlauer Berg gibt’s Übersetzerunterricht in einer besonderen Sprache: Acht fortgeschrittene Gebärdensprache-Dolmetscher lernen heute Zeichen, die international funktionieren. Sieben Frauen und ein Mann sind es, die im Kreis Lieblingsrezepte diskutieren. Die Jüngste ist 18, die Älteste 54 Jahre alt.

Es ist kein bisschen leise, obwohl kaum ein Wort fällt. Da sind Gesichter, Blicke, fliegende Hände. Ein Hin und Her von Erzählen, Nachhaken und Ergänzen. Kleider rascheln beim Gestikulieren oder Münder und Zungen schnalzen kurz.

Job mit Perspektive

Eva ist eigentlich Industriedesignerin. „Aber ich will hauptberufliche dolmetschen“, erklärt sie. Gebärdensprache-Übersetzerin ist ein Job mit viel Perspektive: Nicht-Hörende haben seit 1999 per Gesetz Anspruch auf Gleichbehandlung, Lehrer von Gehörlosen etwa müssen sich bis 2007 die Gebärdensprache aneignen. Das gibt Schulen wie „Visual Hands“ gewaltigen Auftrieb. Die Brücke zwischen hörender und nichthörender Welt findet zunehmend Interesse.

„Vor 15 Jahren war das undenkbar“, erzählt Peter Schick, Geschäftsführer von „Visual Hands“. Eigentlich redet seine Dolmetscherin – eine ungewohnte Triangel-Unterhaltung. Anna-Kristina Mohos sitzt ziemlich unbeteiligt da und spricht synchron aus, was Schick und sein Partner Mathias Schäfer über die turbulente Geschichte der Gebärdensprache berichten.

Schon im 18. Jahrhundert stellte der Franzose Abbe de l’Epée eine Zeichensprache auf. Sie machte Gehörlosen den Weg in Wissenschaft und Universitäten frei. Dann aber kam 1880 der fatale Umschwung auf einem Kongress in Mailand: Eine Mehrheit von hörenden Akademikern beschloss, dass sich Gehörlose künftig nicht mehr gebärden, sondern integrieren sollten. Zur Kommunikation blieb ihnen so nur das Ablesen von den Lippen.

„Von allen Ländern hat sich Deutschland am längsten an diesen Beschluss gehalten“, erklärt Dolmetscherin Eva. In den USA dagegen kam die „Sprache“ der Gehörlosen nie ganz zum Erliegen. „Dort gibt es auch eine ganz ausgeprägte Gebärdensprache-Poesie“ – in Deutschland völlig unterentwickelt, sagt sie.

„Visual Hands“-Lehrer Gunter Puttrich-Reignard ist ein Star in der Gehörlosenszene: Er moderierte für die ARD, singt im Gebärdenchor, ist Schauspieler, Clown und Dragqueen. Wie seinen beliebten Lehrer zog es auch Schulleiter Peter Schick zum Theater. Nicht in Handwerk und Modellbau – Jobs, in denen Gehörlose normalerweise landen. Schick zieht indes Dolmetscher vor, um sich – beschränkt aufs Lippenlesen – nicht selbst zu beschneiden. Er kritisiert die so genannten Lautunterstützenden Gebärden (LuG): „Jedes Wort untermalt man dabei mit einer eigenen Gebärde, um das Ablesen zu erleichtern. Das ist kompliziert und langwierig.“ Die Gebärdensprache deutet etwa für „Wasser im Mund zusammenlaufen“ kurz einen Spuckefaden an. Das Wort-für-Wort-Gebilde der LuG dauert dagegen fast fünf Sekunden.

„So etwas lernen gehörlose Kinder ganz schwer“, sagt Geschäftsführer Schick. Er ist selbst Kind nichthörender Eltern und damit von klein auf ein Gebärdeprofi. In den Gehörlosenschulen gehe es oft drunter und drüber: „Kinder von nichthörenden Eltern bringen die Gebärdefähigkeit in die Klasse. Sie verständigen sich untereinander bestens, lernen aber das Ablesen nicht. Dreht sich der Lehrer zur Tafel, übersetzen sie sich schnell, was er gerade gesagt hat.“ Dafür würden sie dann bestraft und noch dazu für ihre Unfähigkeit im Lippen-Ablesen, fügt Mathias Schäfer hinzu.

Die Pädagogik hinkt dem Gesetz hinterher. Gebärden werden inzwischen als unabhängige Sprache anerkannt. Sie hat regionale Dialekte, eigene Grammatik und Poesie, von denen Hörende keine Vorstellung haben.

Schick und Schäfer treibt die Vision, dass Gehörlose im Alltag künftig auf weniger enge Grenzen stoßen. „Frage ich in den Staaten einen Polizisten nach dem Weg, sagt der nur: ‚Are you death?‘ Und dann erklärt er sofort mit Gebärden weiter“, berichtet Schick von USA-Reisen.

„Gebärdensprache hat der Gesellschaft viel voraus. Man berührt sich, anstatt zu sagen: Hallo, hör mal! Sie verlangt Aufgabe von Distanz, ist sehr konkret“, erklärt Schäfer. „Die Lautsprache ist unkonkret, man versteckt sich in ihr. Beim Gebärden muss man meinen, was man sagt.“ Das sei ungewohnt in der kalten Gesellschaft.

Das Auge hört mit

Den Schülern bei „Visual Hands“ bekommt dieser Wechsel gut. „Auch sozial verschlossene Leute zeigen nach dem Einführungskurs große Lockerheit“, erzählt Schäfer, der in sechs Jahren inzwischen an die 100 Leute geschult hat und immer öfter bei Treffen auf der Straße ein Schwätzchen hält. Momentan ist er begeistert von drei Bauarbeitern, die für einen Kollegen den Kurs machen – mit rasanten Fortschritten.

Wer Gebärdensprache lernt, wird ein bisschen zum Experten für Schauspiel und Improvisation – wie bei jeder anderen Fremdsprache. Aber es gibt noch mehr: „Das Auge hört mit“, sagt Schick. „Dass wir Dinge schnell übersehen, passiert beim Gebärden nicht mehr.“ Außerdem lerne man nicht nur eine Sprache, sondern eine ganze Kultur der Gehörlosigkeit, des visuellen Lebens.

„Ich bin eigentlich ganz froh, nicht zu hören“, bekennt der Schulleiter. Vieles gehe an ihm vorbei, was Hörende unter Stress setze. Das sei ihnen am Gesicht abzulesen. „Und Musik habe ich auch“, fügt er hinzu. „Wenn ein Baum sich im Wind wiegt, dann ist das Musik und Takt für mich. Dabei kann ich auch abschalten.“