Wohlfahrt ist nicht im Sinne der neuen Stifter

Der Staat darf sich nicht aus seiner sozialen Verantwortung ziehen und auf privat finanzierte Wohlfahrt hoffen, meinen Stiftungen und karitative Einrichtungen. Aber auch private Vermögen hätten eine gesellschaftliche Verpflichtung

LOCCUM taz ■ Geschätzte zwei Billionen Euro sind in den vergangenen vier Jahren in Deutschland vererbt worden. Eine ähnliche Summe wird für die kommenden vier Jahre erwartet. Zugleich steigt die Armut, der Staat zieht sich aus der Verantwortung zurück. In dieses Spannungsverhältnis hatten die Bewegungsstiftung, die Stiftung Mitarbeit und die Evangelische Akademie am Wochenende nach Loccum zur Tagung „Solidarität mit Zukunft – Stiften für gesellschaftliche Veränderung“ geladen.

Neben Vertretern von karitativen Verbänden und Stiftungen kamen auch Erben und Vermögende, die eher den „Change“ statt die „Charity“ fördern wollten. Wohin genau dieser Wechsel gehen soll, blieb in den Plenar- und Gruppengesprächen jedoch unklar. So sagte der Geschäftsführer der mitveranstaltenden Bewegungsstiftung, Jörg Rohwedder: „Wir unterstützen verschiedene soziale Bewegungen und nicht einzelne Themen.“ Mehrheitsfähig war insgesamt lediglich, dass der Staat seinen Anteil an der Verantwortung für soziale Gerechtigkeit wieder übernehmen müsse und Spenden und Stiftungen den gesellschaftlichen Wandel unterstützen sollten. Dass das „auf gleicher Augenhöhe zwischen Gebenden und Nehmenden geschehen“ müsse, betonte nicht nur Ise Bosch von der Filia Frauenstiftung.

In den vergangenen Jahrzehnten haben sich die Einkommen und Vermögen in Deutschland umverteilt. Das liegt vor allem daran, dass sowohl die frühere schwarz-gelbe wie auch die aktuelle rot-grüne Bundesregierung die Besteuerung verschoben haben. Laut Claus Schäfer vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) hielten sich die staatlichen Einnahmen aus Massensteuern und Gewinnsteuern im Jahr 1960 mit Anteilen von 37,5 zu 34,7 Prozent annähernd die Waage. Seitdem habe sich das Verhältnis auf 78,4 zu 13,2 Prozent verschoben. „Und die oberen zwei Drittel der Einkommen in Deutschland“, so Schäfer, „besitzen fast 94 Prozent des Nettovermögens.“ Der WSI-Experte nannte das den „politisch initiierten Steuerkrebs des Wohlfahrtstaates“.

Ein neues Gesetz zur Vermögensbesteuerung ist trotz der anhaltenden Anstrengungen von Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, NGOs und Parteilinken aus den Regierungsfraktionen nicht in Sicht, ein neues Erbschaftssteuergesetz zumindest im Gespräch. Allzu viel Hoffnung setzten die Loccumer Teilnehmer jedoch ohnehin nicht auf neue Gesetze: „Was bringen die?“, fragte ein Essener. „Jetzt werden Kindergärten geschlossen. Da glaube doch keiner, dass die in ein paar Jahren wieder eingerichtet werden!“

Dass sich zumindest einige Millionäre mit ihrem Vermögen durchaus in einer sozialen Verpflichtung sehen, hatten sie schon im vergangenen Jahr gezeigt, als sie öffentlich die Wiedereinführung der Vermögenssteuer forderten. Diese Pflicht war auch in Loccum ein Thema: Wolfgang Gern, Direktor des Diakonischen Werks Frankfurt, erklärte, das Sozialprinzip innerhalb eines Staats sei verletzt, wenn „vorhandenes Vermögen nicht zur Sozialpflicht herangezogen wird“. Er forderte ein internationales Sozialrecht. Hier traf er sich mit Sven Giegold von Attac, der dafür plädierte, in Zeiten des global fließenden Kapitals und des damit einhergehenden Steuersenkungswettlaufs neue soziale Standards zu formulieren. Den Befürchtungen, ein umfassendes Sozialsystem lade nur zum Missbrauch ein, hielt er entgegen: In den vergangenen Jahren seien 120 Millionen Euro Sozialhilfe missbräuchlich beantragt, zugleich aber bei der Steuer 65 Milliarden Euro hinterzogen worden.

Eindeutig beantwortet wurde jedoch die Frage nach der Perspektive „Philantropie und/oder staatliche Umverteilung“? Immerhin gab es einen Boom von Stiftungsgründungen, seit das Stiftungsgesetz vor zwei Jahren reformiert wurde: Allein 2003 kamen 800 neue zu den 11.000 – zum Teil seit Jahrhunderten bestehenden – Stiftungen hinzu. Man dürfe nicht das eine gegen das andere aufwiegen, wurde allgemein appelliert. Gebe der Staat seine soziale Verantwortung weiter auf, sei die Demokratie gefährdet. Gisela Notz von der Friedrich-Ebert-Stiftung fasste die Stimmung zusammen: „Eine andere Welt ist möglich, aber die Kirche soll im Dorf bleiben und der Staat im Land.“

CLARA LUCKMANN