Umzingelt von Federvieh

AUS KELSTERBACH HEIDE PLATEN

Jochen Schaab, Referent des Kelsterbacher Bürgermeisters, sagt es unmissverständlich: „Wir sind gegen jeden Form des Ausbaus!“ Das hat das Stadtparlament „komplett und einstimmig“ beschlossen. Kelsterbach im Westen Frankfurts, rund 15.000 Einwohner, ist ein wohlhabender Ort. Die Stadtkasse ist auch in mageren Zeiten gut gefüllt, Einwohnerzahl, Kaufkraft und Gewerbesteueranteil sind kontinuierlich gestiegen – dank des Rhein-Main-Flughafens, gegen den die Gemeinde jetzt Front macht. „Wir sind nicht technikfeindlich“, betont Jochen Schaab. Der Ort hat 60 Jahre lang vom und mit dem Flughafen gelebt und profitiert, soziale und kulturelle Investitionen sowie die kurzen Arbeitswege machten Kelsterbach attraktiv.

Die verkehrsfreundliche Handschrift der seit Jahrzehnten mit absoluter Mehrheit regierenden SPD ist im Stadtbild unverkennbar. Eine breite Durchgangsstraße, spärlich begrünte Betonwände, die Fußgänger müssen in die Unterführungen. Schaab weiß: „Geht es dem Flughafen gut, geht es auch uns gut.“ Das aber hat in der Vergangenheit seinen Preis gekostet. Der Ort verlor den größten Teil seines Stadtwaldes an die Fraport, die letzten Waldflächen sind zerschnitten.

Phalanx der Flughafengegner

Schaab zählt auf: „Starker Verkehr, zugeparkt von Flughafennutzern, Flug- und Autolärm.“ Da bleiben die kleinen Freuden: „Zum Glück werden wir bisher nicht direkt überflogen.“ Viele der Belastungen, sagt er, „sieht man gar nicht“: „Unterirdische Leitungen für Kerosin, für Gas, Strom, Abwasser, alles geht durch die Gemarkung.“ Die Bürger können und wollen nicht mehr: „Das wächst alles immer mehr und immer mehr an uns heran. Da sind vielfältige Ängste.“ Unter anderem auch die vor dem Verlust der Selbstständigkeit durch Eingemeindung nach Frankfurt. Allgemeiner Eindruck sei: „Das geht immer so weiter. Und was kommt als Nächstes?“

Kelsterbach hat sich mit 22 Städten und Gemeinden in der Region, drei Landkreisen, mit Naturschützern und Bürgerinitiativen zum Aktion „Zukunft Rhein-Main“ zusammengeschlossen und wird durch „alle Instanzen“ gegen die geplante Nordwestlandebahn klagen. Und der Ort hat starke Argumente. Das Chemiewerk Ticona mit seinen drei Schornsteinen steht genau in der künftigen Einflugschneise. Es wären, so befanden Experten im Januar bei einer Landtagsanhörung, umfangreiche Umbauarbeiten notwendig. Das Unternehmen muss mit Auflagen rechnen. Das Management hat sich vorerst mit den Ausbaugegnern und Umweltschützern verbündet. Es errechnete inzwischen prophylaktisch auch die Umzugskosten: 1,3 Milliarden Euro. Wenn die Ticona aus der Phalanx der Ausbaugegner ausscheren sollte, bleiben den Kelsterbachern die Vögel.

Krähen ziehen vom Mainufer in Richtung Ticona. Sie suchen auf den Freiflächen nach Futter, fliegen über die Dächer, die Schornsteine. Der Winterwind pfeift eisig über den Fluss, 14,4 Kilometer vor der Mündung. Bernd Petri öffnet die beiden rostigen Torflügel im Maschendrahtzaun, der den Weg zum Wasser versperrt. Er ist im Auftrag von „Zukunft Rhein-Main“ unterwegs zu seinem einsamen Arbeitsplatz, lässt seinen Wagen die flache Böschung abwärts rollen bis kurz vor die vom Hochwasser umspülten Ufersteine. Wenig los an diesem Vormittag, weder zu Luft, noch zu Wasser oder zu Lande. Nicht, dass da kein Verkehr wäre, über die monumentale Betonbrücke rast der Intercity von Frankfurt nach Köln, vom Himmel senken sich die Flugzeuge im Minutentakt zur Landung, im Wasser zieht der Frachter „Barquer“ seine Bugwellen mainaufwärts. Nur die Vögel ziehen es vor, an diesem Tag nicht gegen den Wind anzukämpfen, die paar vereinzelten Krähen ausgenommen: „Vögel“, sagt Petri, „sind absolute Energiesparer.“

Eben deshalb aber herrscht sonst im Luftraum Gedränge. Die Tiere nutzen den Main und seine Nebenflüsse, die Wärme, die Thermik über dem Wasser, die offene Landschaft des großen europäischen Vogelzugkorridors, ziehen alljährlich auf ihren Wanderungen nach Süden und Norden vorbei an den Ausläufern des Taunus, eine ideale Strecke für die Vielflieger. Bernd Petri ist Diplombiologe und zählt die Federtiere täglich. Kilometer 14,4 ist sein Hauptstandort. Auch wenige Vögel sind eine statistische Größe, denn hier, wo sie an anderen Tagen scharenweise in der Luft sind, wird sich die Einflugschneise der geplanten, neuen Nordwestbahn des Frankfurter Flughafens mit den Vogelrouten im Luftraum kreuzen, Anflughöhe 120 Meter. Petri hält das für gefährlich. Es gehe ihm, sagt er „nicht zuerst um die armen Vögel“, sondern vor allem um Menschen und Maschinen. Vogelschlag ist eine der Hauptunfallursachen im Luftverkehr. Die Ergebnisse seines Gutachtens haben selbst die Auftraggeber erschreckt. Im Kelsterbacher Rathaus sagte Bürgermeister Erhard Engisch (SPD) zu den ersten Zahlen der bisher einjährigen Vogelzählung: „Ich bin mehr als bestürzt.“

Bernd Petri hat schon einmal Vögel gezählt – im Dienste des Gegners, des Flughafenbetreibers Fraport. Die betreibe auf ihrem Gelände ein „sehr effektives, modernes Vogelmanagement“, sagt er. Hohes Gras mache das Gelände für Großvögel, Körner- und Insektenfresser ebenso unattraktiv wie für Greifvögel. Zudem halte der umliegende Wald ab. Vögel schätzen Offenland. Das Aufkommen auf dem derzeitigen Gelände sei unstrittig gering. Aber die Orientierung an Flussläufen und Tälern könne auch die Fraport den Zugvögeln nicht abgewöhnen, ebenso wenig wie den Wintergästen und Standvögeln.

Die Messergebnisse sind eindeutig. Lachmöwen, Krähen, aber auch Starenschwärme ändern ihre Flughöhe bei unterschiedlicher Witterung nach Bedarf zwischen 100 und 300 Metern, bei Rückenwind fliegen sie höher, bei Gegenwind niedriger, kreisen in den Thermikschläuchen: „Sie halten sich knallhart an dieses Tal.“ Bis zu 10.000 Krähen und Möwen hat Petri schon gezählt, in nur drei Stunden, dazu noch Tauben, Stare, Enten, Kormorane, Gänse. Mit so hohen Zahlen und einem so kontinuierlichen Betrieb habe selbst er nicht gerechnet. Er ist verärgert über die Fraport, die zuerst die Existenz der Vögel bestritten und dann ihre Flughöhe auf ungefährliche „unter 100 Meter“ reduziert habe. Seine Diagramme sprechen eine andere Sprache. 11.951 Möwen auf Pendelflug beispielsweise addierte er an einem einzigen Februartag.

Und die fliegen und ziehen nicht nur im Frühjahr und Herbst, sondern vor allem den ganzen Winter über. Dann kommen die Möwen und die Saatkrähen aus Osteuropa an den Main. Rund 60.000 Lachmöwen zählte Petri 2003, dazu Silber-, Sturm- und Weißkopfmöwen. Lachmöwen stellen den Großteil der erfassten Vogelarten: „Die haben hier das Paradies.“ In Höhe der Kelsterbacher Ortspromenade, 16,6 Kilometer von der Mainmündung entfernt, lassen es sich die grauweißen Vögel gut gehen, schwimmen scharenweise vorbei, einige hundert Meter von der raschen Strömung flussabwärts getragen. Dann fliegen sie auf, die Strecke zurück, wassern und lassen sich wieder treiben. In der raschen Strömung fischen sie nach Insekten und Pflanzenteilen. Gegen Abend werden sie wieder zur ihren Schlafplätzen pendeln. Das bedeutet Gefahr. Petri und Jochen Schaab sind sich einig: „Die Fraport kann sich nicht wegducken. Sie muss die Verantwortung übernehmen.“

Eine Gefahr sind die Vögel nicht nur am Kreuzungspunkt Kilometer 14,4. Petri erforscht ihr Verhalten in der ganzen Region. Die neue Landebahn wäre, so sein Fazit, umzingelt von Vögeln. Auf der Eddersheimer Schleuseninsel nisten und rasten im Westen Krähen, Graureiher, Kormorane, Enten. Der Industriepark Höchst im Norden ist Schlafplatz für Saatkrähen und Dohlen. Die Mainwiesen sind Refugium für Reiher, Milane, Bussarde. Die Landebahn soll außerdem ein Ufer des Mönchwaldsees neben der Ticona touchieren.

Gefährdete Idylle am See

Dieser See ist bisher Lebensraum für Reiherenten, Kormorane, Hauben- und Zwergtaucher, Blesshühner und den seltenen Rothalstaucher. Da nutzt kein Vogelmanagement. Der See müsste, ebenso wie die landwirtschaftlichen Nutzflächen, verschwinden, wenn die Vögel weg sollen: „Die neue Landebahn wäre für sie geradezu eine Erschließung.“ Der See ginge dann auch für Sporttaucher, Ausflügler und Badegäste verloren. In der Mittagspause entspannen sich auf den Waldwegen die Mitarbeiter der Ticona. Grün, egal wie geschädigt durch Industrie, Abgase und Kerosin, ist rar in der zersiedelten Region mit dem Charakter einer Industriebrache.

Bernd Petri schweift kurz von der ungewissen Zukunft in die Vergangenheit. Zwischen Ticona und Mainufer steht versteckt eine verfallende Idylle, eine kleine weiße Kapelle mit Schieferdach und Türmchen zwischen Ahorn und Efeu, der Rest eines ehemaligen Klosterhofes. Im Gebüsch raschelt ein Grünspecht. Auf dessen Verwandten hat der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) mit seiner parallelen Klage gesetzt, falls Lachmöwen und Krähen nicht ausreichen sollten, um die Landebahn zu stoppen. In den Restbeständen der ohnehin „unersetzlichen Wälder“ hat der Mittelspecht einen Lebensraum von „europäischer Bedeutsamkeit“.