berliner szenen Theorie und Praxis

Bekannte Verfolger

An einem Samstag, kurz vor Ladenschluss, traf sie ihn in einem Supermarkt in Prenzlauer Berg wieder. Sie hatte gerade einige Dosen Mais aus dem Regal genommen und zu den anderen Sachen in den Rucksack gesteckt, als sie sich umdrehte und mit ihm zusammenstieß. „Was glotzt‘n so?“, sagte sie. „Du leidest wohl unter Verfolgungswahn?“ – „Sie irren sich“, sagte er. Seine Stimme klang nicht aufgeregt, aber seine Stirn legte sich in Falten, als überlege er, wo sie sich schon einmal begegnet sein könnten.

„Was verfolgst‘n mich dann andauernd? Ich habe nichts gestohlen.“ – „Das wird sich zeigen.“ – „Du bist ja verrückt.“ – „Nein, ich bin Detektiv.“ – „Ein Detektiv, der unter Verfolgungswahn leidet. Wahrscheinlich arbeitest du zu viel.“ – „Ich sagte Ihnen schon, dass Sie da einen schweren Denkfehler machen. Wer unter Verfolgungswahn leidet, glaubt, von anderen beobachtet, überwacht und bedroht zu werden. Verfolgungswahn tritt vor allem bei Schizophrenen und Alkoholikern auf.“ – „Ich weiß.“ – „In diesem Fall bin ich aber der Verfolger, und Sie sind die Verfolgte. Was haben Sie denn da in Ihrer Tasche?“ – „Das geht dich gar nichts an. Und im Übrigen: Ich habe es überhaupt nicht nötig zu stehlen.“ – „Die meisten Diebe haben‘s nicht nötig und tun‘s trotzdem. Es ist eine Art Zwang, Kleptomanie nennt man das.“ – „Du hältst dich wohl für schlau, was?“ – „Ich habe sieben Semester Psychologie studiert.“ – „Sag mal, warst du nicht in dem Seminar ‚Psychologie als kulturelle Konstruktion‘?“ – „Bei der Staeuble?“ – „Ja. Und in der Übung über Armut als psychische Belastung warst du auch.“ „Aber nur einmal.“ – „Und warum hast du aufgehört?“ – „War mir zu theoretisch. Wenn Sie mir jetzt bitte ins Büro folgen würden!“ JAN BRANDT