Wir bilden einen Kreis

Betend, schweigend, singend wird deutschlandweit protestiert. Im bayerischen Murnau wird geredet – jeden Montag im Friedenskreis

aus Murnau/StaffelseeJÖRG SCHALLENBERG

Natascha ist nervös. Aber es hilft nichts, jetzt muss sie etwas sagen. Denn sie hat letzte Woche den Stab übernommen. Und wer das kleine, mit einer weißen Schleife umwickelte Stück Holz bei sich trägt, der eröffnet die Versammlung.

So will es das Ritual der Gruppe, die sich seit Ende Januar jeden Montag in der Fußgängerzone des bayerischen Murnau am Staffelsee trifft, um gegen den drohenden Irakkrieg zu protestieren. Das Wörtchen „drohend“ haben sie seit dem außerplanmäßigen Treffen am vergangenen Donnerstag gestrichen. Also spricht heute Natascha mit anfangs stockenden Worten von den Menschen, die im Irak in ihren Häusern sitzen und nur hoffen können, dass sie keine Bombe trifft. Dann hält die dunkelhaarige Abiturientin inne und fügt mit hörbarem Abscheu hinzu, wie „unangebracht ich es finde, dass die Amerikaner auf ihre Raketen ‚The Almighty‘ schreiben – ‚Der Allmächtige‘ “.

Nach ihrer kurzen Rede gibt sie den Stab weiter an einen Mann, der eine bunte Fahne mit der Aufschrift „Pace“ trägt. Pace heißt Frieden. Auf italienisch. Italien ist schließlich nahe hier bei Murnau, wo die Alpen direkt vor einem zu stehen scheinen, wenn man in Richtung Süden schaut. Natürlich sind wir in Bayern. Weißblauer Himmel, idyllische Umgebung, tiefschwarze Lokalpolitik, eine Fußgängerzone, in der man vom Pflaster essen könnte. Laut Fremdenverkehrsamt hat Murnau „11.671 Einwohner, vorwiegend katholisch“.

Gut 100 von ihnen stehen an diesem Montag ab halb sechs vor der Mariensäule mitten in der Stadt. Sie bilden einen Kreis, aus dem nacheinander die Sprecher vortreten. Eine Frau liest einen offenen Brief des Schriftstellers Paulo Coelho vor, in dem er Tony Blair und George Bush verspottet. Ein Mann schlägt einen weiten Bogen von den Ogoni in Nigeria über die deutsche Filmförderung bis zu George Bush. Später stellt er sich als Mitglied der SPD und von Attac im nahe gelegenen Weilheim vor. Wenn man hier dagegen ist, dann auch richtig. Oder christlich. Die Verantwortung Gottes für den Krieg wird diskutiert und gern die Bibel zitiert.

Alle sind still, als ein wohlbeleibter Vollbartträger den Text einer irakischen Wirtschaftswissenschaftlerin über die ökonomischen Hintergründe des Krieges vorträgt und anschließend von einem Bekannten erzählt, der Taxifahrer in Bagdad ist. Vor einer Stunde hat er noch mit ihm telefoniert: Die Bomben kommen näher.

Es ist ein bunter Haufen, der sich hier trifft. Viele Junge, viele Alte, wenig dazwischen. Wer fehlt, sind Wichtigtuer, Schwafler, Radikale und Leute, die ihre selbst gestrickten Friedenstauben-Pullover von 1983 auftragen.

So sieht sie aus, die Friedensbewegung in der bayerischen Provinz. Zum Beispiel. In Bad Aibling werden in diesen Tagen immer wieder „Lichter der Hoffnung“ angezündet, in Fürth wird für den Frieden gebetet, in Coburg geschwiegen, in Feuchtwangen demonstriert. Es gibt Konzerte in Cham, Mahnwachen in Kaufbeuren, Kundgebungen in Aschaffenburg. In Murnau redet man. Ruhig, unaufgeregt, eindringlich.

„Es darf alles gesagt werden“, betont Cornelia Groß (46), die gemeinsam mit ihrem Mann Felix die Montagsversammlung an der Mariensäule initiiert hat. Sie ist Heilpraktikerin, er Arzt. Beim Studium in Berlin haben sie sich kennen gelernt und dort, in den Achtzigern, bereits für den Frieden demonstriert. Als Bekannte aus Berlin von ihren Aktionen erzählten, beschlossen die beiden, auch in Murnau etwas zu tun. Außerdem, sagt Cornelia Groß, „haben wir zwei Töchter, und da überlegt man auch, ob man jetzt mal etwas macht oder wieder nur zuschaut“.

So ist eine jener Initiativen entstanden, von denen es im Moment hunderte in Deutschland gibt. Abseits der großen Städte und ohne spektakuläre Aktionen suchen sie ihren Weg und ihre Ausdrucksform. Ein festes Programm gibt es nicht. „Irgendeine Demo würde hier ja nichts bringen“, meint Groß, während sie zu den Verkäuferinnen hinüberschaut, die zum Ladenschluss hastig die Auslagen des Tengelmann-Marktes einräumen.

Deswegen reden sie im Kreis, nach innen gewandt. Es ist eine offene und öffentliche Versammlung, aber keine offensive. Wer bei der Montagsversammlung dabei ist, freut sich über das Forum, das hier geboten wird. Die Anziehungskraft ist dennoch unübersehbar. Um halb sechs standen gut 100 Zuhörer an der Mariensäule, um halb sieben sind es sicher 200. Nächste Woche sind sie wieder da.