: Gesellschaft in Bewegung
Railmovie in Sepiatönen: Mit seinem Film „Express, Express“ entführt Igor Sterk in ein Slowenien der Zwischenzeit – nach der Wahl der ersten nicht kommunistischen Regierung und vor der Unabhängigkeit von Jugoslawien
von CHRISTIANE MÜLLER-LOBECK
Igor Sterks Express, Express ist ein Film wie ein Melissenbad. Man steigt ein und augenblicklich durchströmt einen angenehme Wärme und ein lange nicht da gewesenes Entspannungsgefühl. Wie bei Moussa Tourés TGV Express über eine Busreise in Senegal wird schon im Titel ironisch eine Geschwindigkeit versprochen, die das gezeigte Fortbewegungsmittel gar nicht einhalten kann. Doch bei Sterk kommt auch innerhalb des Fahrzeugs keine Hektik auf. Wie in Zeitlupe bewegen sich die Protagonisten in den antiquarisch anmutenden Zügen seines Films –selbst dann noch, wenn sie Jagd auf die Papageien machen, die aus einem Vogelbauer entkommen sind. Auch lautes Geschrei oder wortreiche Dialoge finden sich hier nicht, Sterk setzt mit einem für Debütanten ungewöhnlichen Selbstbewusstsein auf die Kraft seiner Bilder.
Allein der Einstieg: Hände markieren mit Kreide ein Stück schwarzen Stoff, zerschneiden ihn, führen ihn durch eine Nähmaschine, ein paar behaarte Beine bewegen das Fußpedal, jemand pfeift eine Melodie, Musik aus dem Off setzt ein; bis Pfeifen und Orchester im selben Takt zusammenkommen, ist die Hose fertig und angezogen. Der Griff zu einem Hemd, zum Koffer auf dem Schrank, Schritte aus der Wohnung, eine Hand streicht den Namen des Vaters am Türschild durch und schreibt „Mariya“. Nicht ein einziges Mal war der ganze Mann im Bild, kein Wort ist gesprochen, doch wenn die Kamera vor dem Haus die schwarze, zerschnittene Trauerfahne zeigt, ist ein Großteil seiner Geschichte bereits vertraut.
Am Bahnschalter geben ein paar Taubstumme mit vielen Gesten die Richtung des Films vor. Noch können sie sich nicht verständlich machen. So ein Leben ist nicht ohne Risiko, einer von ihnen wird verletzt, als der bärbeißige Schaffner die Tür der Toilette nach vielen lauten Drohungen aufbricht, weil er dort einen Schwarzfahrer vermutet. Doch später ermahnt er die Taubstummen sogar zur Ruhe – durch einen an den Mund geführten Zeigefinger. Es sind auch die zahlreichen kleinen Geschichten der vielen Mitreisenden des jungen Mannes mit der selbst genähten Hose, die Express, Express problemlos bis zu seinem Ende hin tragen.
Der junge Mann will auf die Frage nach seinem Ziel bloß immer „vorwärts“, ein Ticket löst er jeweils nur bis zur nächsten Station, zum großen Leidwesen des Schaffners: „Ich schreib doch nicht für jeden Bahnhof einen Roman!“ Muss er aber, und er tut es mit der Gefahr verheißenden Ruhe eines alten k.u.k.-Beamten. In seinem Abteil trifft der junge Mann auf die Dinge einer jungen Frau. In einer kleinen Kommode, die er in ihrer Abwesenheit vorsichtig untersucht, trägt sie ihren ganzen Hausstand mit sich herum. Die Liebe, die sich zwischen den beiden im Laufe der Fahrt entspinnt, lässt sich nur erraten. Bis er den ersten Satz zu ihr spricht – „Wollen Sie einen Saft?“ – hat er bereits sein Passfoto an ein gerahmtes Bild von ihr geklemmt und ihr dabei geholfen, ihre Wäsche im Abteil aufzuhängen.
Sterk kehrt mit seinem sepiafarbenen Film nicht nur an die Anfänge des Films zurück, als der zusammen mit der Eisenbahn geradezu ein Synonym für Fortschritt war, er ruft nicht nur die stummen Bilder von Charlie Chaplin und Buster Keaton auf, er erinnert nicht nur an Jaques Tati, Juri Menzel und mit ein paar Marionetten an die große Zeit des tschechischen Trickfilms. Sterk kehrt mit Express, Express auch auf der Ebene der Erzählung der Gegenwart den Rücken. „1991, 1. April“ verkündet eine Einblendung. Ein Jahr zuvor war in Slowenien die erste nicht kommunistische Regierung gewählt worden. Ihre nationale Unabhängigkeit von Jugoslawien erklärten Slowenien und Kroatien aber erst im Juni 1991. Der Film, der 1997 entstanden ist, erzählt auch augenzwinkernd von dieser „Zwischenzeit“, von einer damals herrschenden Aufbruchsstimmung in Slowenien, die noch ohne bestimmtes Ziel war, dafür aber jede Menge Vergangenes mit sich führte.
täglich, 20 Uhr, 3001
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen