„Stell dich nackt auf die Waage, Joschka“

Der Stuttgarter Theaterintendant Friedrich Schirmer war fett. 120 Kilo. Klassischer Stressfresser. Dann fing er zu laufen an. Heute schimpft er auf Joschka Fischer. Weil der aufgegeben hat und wieder dick ist

VON JOSEF-OTTO FREUDENREICH

Wer Friedrich Schirmer gerne in Stuttgart behalten hätte, wird die Solitude verfluchen. Dort rennt er immer. Auch an jenem 15. September, einem heißen Spätsommertag. Er will zum Bärenschlössle laufen, am Sportplatz in Gerlingen vorbei, die Hauptallee entlang und nach 28 Kilometern Klarheit darüber haben, was er tun soll. In Stuttgart bleiben oder 2005 nach Hamburg gehen? Der Kopf sagt ihm, er möge bleiben, weil es so schön ist am schwäbischen Staatsschauspiel.

Das Publikum liebt sein Theater, ist treu und stets neugierig darauf, was ihm sonst noch alles einfallen würde. Am Hamburger Schauspielhaus stattdessen, das weiß er, würde zunächst alles ganz anders sein. Ein heruntergewirtschafteter Laden mit „grauenhaften Zahlen“ würde ihn erwarten, die Geister von Gründgens, Nagel und Zadek würden höhnisch aus der Kulisse grinsen, und 20 Prozent weniger Gage würde er auch bekommen. „Im Geiste hatte ich schon abgesagt“, sagt Schirmer. Und das will er den Hanseaten am nächsten Tag so auch mitteilen.

Pünktlich um 16 Uhr trabt Friedrich Schirmer los. Er will die 28 Kilometer in vier Stunden schaffen, damit er die Sicherheit hat, seinen ersten Marathonlauf durchzustehen, der am 5. Oktober in Köln stattfindet. Er läuft wie ein Mannequin, die Füße über Kreuz, was auf dem Laufsteg elegant sein mag, im Wald aber kräftezehrend ist. Der Pulsmesser meldet normale Werte, 140 Schläge pro Minute, und drückt doch nichts darüber aus, was wirklich in ihm vorgeht. Herz und Hirn beginnen miteinander zu sprechen.

„Du kannst dich gleich erschießen, wenn du nach Hamburg wechselst“, schimpft das Hirn.

„Wenn du kneifst, hast du keinen Mut mehr“, poltert das Herz.

„Ein normaler Mensch macht das nicht“, warnt das Hirn.

„Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht“, antwortet das Herz.

Die Zwiesprache, erinnert sich Schirmer, hat er nicht gesteuert. Er hat sie einfach laufen lassen, als hätte er damit nichts zu tun. Nach vier Stunden kehrt er zu seinem Haus auf der Solitude zurück, zieht die Schuhe aus und weiß: „Ich mach’s.“

„Es“ habe sich entschieden, wird er später zu seiner Frau Marie Zimmermann sagen, wobei er nicht erklären kann, was dieses „es“ ist. Den Kölner Marathonlauf wird er in 5,46 Stunden zurücklegen.

Friedrich Schirmer, 52, sei, so heißt es, in seinem Beruf ein Ermöglicher und Entdecker. Immer auf der Suche nach neuen Stoffen, Schauspielern und Regisseuren. Das Marathontraining ist ihm dafür zur Metapher geworden. Nur nicht stehen bleiben, fix zum „Runner’s High“, jenem Glücksmoment, das sich zwischen Kilometer 30 und 32 einstellt. Stuttgart war dieser Augenblick, Hamburg wird das Leiden danach, einen furiosen Zieleinlauf nicht ausgeschlossen.

Eine erstaunliche Geschichte, weil sie undenkbar scheint. Der gebürtige Kölner war nie dazu gemacht, ein Sportsmann zu werden. Er war fett, einfach nur fett. Der klassische Stressfresser. 120 Kilo hat er gewogen, viel zu viel für seine einsvierundachtzig. „Wenn Sie so weitermachen, können Sie in zehn Jahren den Löffel abgeben“, hat ihn sein Arzt gewarnt. Damals, Ende der Achtzigerjahre in Esslingen. Schirmer hat gehungert. Drei Liter Wasser am Tag, 100 Gramm Roastbeef, Gemüsebrühe, Kaffee und Zigaretten. Nach dreieinhalb Monaten war er bei 82 Kilogramm und einer Laune angelangt, die sein Ensemble dazu trieb, ihn zu bitten, wieder Schweinshaxen zu essen. Er tat es nicht, er ist gelaufen.

Die Parallele heißt Joschka Fischer. Selbstverständlich hat Schirmer dessen Buch („Mein Lauf zu mir selbst“) gelesen. Er kennt die Motive des grünen Außenministers nur zu gut, der einst sein Gewicht von 110 auf 75 Kilo gedrückt hat. Runter mit den Pfunden, um dem Herzkasper zu entrinnen. Die Sucht durch eine andere, gesündere ersetzen. Den Körper wieder spüren, die Umwelt wieder wahrnehmen, wenn der Panzer weg ist.

Sich die Fähigkeit erlaufen, den Würgegriff der Probleme zu lösen, die sich um die Seele gelegt haben. Aber wie das so ist mit den hehren Motiven, sie rennen oft gegen die Wand der Wirklichkeit. Fischer ist wieder dick, und Schirmer schimpft auf ihn, als gefährde der Herr Minister des Intendanten neue Lust. Ein Weichei sei der berühmteste Läufer der Nation, das „lieber mit dem Kanzler Rotwein trinkt“, als seinen Überzeugungen treu zu bleiben, die er, rein sportlich gesehen, in seinem Buch so wortreich vorgetragen hat. Weil das Private auch politisch ist, hat Schirmer den Obergrünen in die „Bequemlichkeitsfalle“ tappen sehen, in der er die Meinungen wie das Hemd wechsle. „Joschka, stell dich nackt auf die Waage“, möchte er ihm zurufen und damit daran erinnern, wer er einmal war. Klar, die Waage ist für ihn ein Politikum. Der Dramaturg Schirmer kann sich bei dem Thema in Rage reden, so vehement („Ich will mein Geld für das Buch zurück“), als gelte es, einen Verräter an der guten Sache, die so viel Kraft abverlangt, zu bestrafen.

Da passt der zweitberühmteste Läufer besser ins Bild. Er wollte ein „kleiner Baumann“ werden, erzählt der dicke Junge von einst, der heute die Backen aufbläst, um zu zeigen, was er einmal für ein Mondgesicht gehabt hat. Wie alle Leistungsbesessenen ist er viel zu schnell losgerannt und hat darüber das Laufen als Qual empfunden. Wie anders dagegen der fliegende Bleistift Dieter Baumann. Dessen Olympiasieg über 5.000 Meter 1992 in Barcelona hat sich Schirmer eingebrannt. Das scheinbar mühelose Vorbeischweben an den Gegnern auf den letzten Metern verschmolz ihm zu einem „faszinierenden Schauspiel“, mit dem der joggende Kulturschaffende private und berufliche Fantasien verband.

Doch das war es nicht allein, was Schirmer in ein Laufseminar von Baumann trieb. Es war auch die öffentlich zelebrierte „Geschichte des gefallenen Engels“, die ihn anzog. Der ständig Suchende wollte herausfinden, was das für ein Mensch ist, der „tausend Tode gestorben ist“ und immer noch lebt. Woher einer die Energie nimmt, aus einer Schlacht einigermaßen heil herauszukommen, die Schirmer an den Dreißigjährigen Krieg erinnert – die Dopinganklage. „Sie sind unschuldig und für die Öffentlichkeit schuldig“, sagt Schirmer und will erfahren, wie diese Spannung auszuhalten ist. Auch das Theater ist ein Tollhaus, in dem er nicht weiß, ob er am nächsten Tag gekreuzigt oder bejubelt wird. „Die Katastrophe ist mein ständiger Wegbegleiter“, sagt Schirmer.

Baumann, 38, hat ihm seinen Weg auf vielen Kilometern erklärt. Er hat dem Älteren bedeutet, dass er nie den Glauben an sich selbst verloren hat, dass er sich verabschiedet hat von dem Gedanken, je wieder der Alte zu sein, und dass er voller Neugier auf das schaue, was kommt. „Friedrich, du musst die Komfortzone verlassen“, hat er zu seinem Laufkumpel gesagt, „dann lebst du weiter.“

Dann sind sie zusammen ausgerückt, der Mannequin-Jogger und der Bleistift, vom Staatstheater in die Grünanlagen am Stuttgarter Hauptbahnhof, und Schirmer hat von seiner Angst erzählt, heute ein Adler und morgen ein Suppenhuhn zu sein. Die Leichtigkeit, mit der sie zurückgekehrt sind, deutete nicht darauf hin, dass beide in der Brühe landen.