Russland renoviert

„Komisch“, sagt Ksenija, „bei uns ist gutes Holz ohne Astlöcher billiger als normales Sperrholz“„Sonderangebote brauchen wir nicht“, sagt der Marktchef, „die Kunden denken, da ist der Wurm drin“

AUS MOSKAU BARBARA KERNECK

Genau vor einem Jahr bekam die zierliche Sekretärin Ksenija Mironowa* in Moskau eine eigene Einzimmerwohnung und vor einem halben Jahr einen Herzinfarkt – mit Mitte 50. Eine solche Wohnung war seit über 30 Jahren ihr Traum gewesen. Der Infarkt – sie hat ihn knapp überlebt – folgte auf ihren Versuch, den Traum zu renovieren.

Ksenija konnte sich nur eine kleine Wohnung zum Sonderpreis leisten, und die war entsprechend ramponiert. Eigenhändig schleifte sie 46 Säcke voller Müll aus dem vierten Stock: altes Linoleum, verquollene Türrahmen. Was sie aber schließlich niederstreckte, war die Enttäuschung: Nach monatelangem Ackern, Warten auf Handwerker und Bezahlen von Rechnungen entsprach das Resultat doch nicht bis aufs i-Tüpfelchen ihrer Idealvorstellung. „Auf Ölfarbe hätte man niemals Trockenmörtel auftragen dürfen“, sagt sie und starrt verbittert zur frisch gestrichenen Küchendecke, an der sich zwei haarfeine Risse abzeichnen.

Ksenija ist ein Extrem-, aber kein Einzelfall. Ganz Russland schwelgt im Renovierungs- und Einrichtungsboom, und die Ansprüche an ein neues Ambiente haben sich hochgeschraubt. Wer in der Sowjetunion seine Wohnung umkrempeln wollte, brauchte keine andere Beschäftigung mehr, so schwer war es, alles Nötige aufzutreiben. Tausendfach fand sich in den Wohnungen das gleiche Mobiliar, archetypisch und wie von Kinderhand gemalt: Das ist ein Stuhl, das ist ein Schrank und das ein Tisch. Eben Ware „für die Bevölkerung“.

Heute, nach einem halben Jahrzehnt ökonomischen Wachstums, hat der neue Mittelstand ein wenig Geld zurückgelegt und möchte sich den lebenslang gehegten Traum vom individuellen Heim erfüllen. Die meisten Russen haben inzwischen die Möglichkeit genutzt, ihre Wohnung gegen eine Verwaltungsgebühr zu privatisieren. Während sich die Durchschnittsbürger zunehmend entpolitisieren, können sie zwar keine Berge mehr versetzen, aber immer mehr Wände.

Man hat sich verändert im vergangenen Jahrzehnt, hat etwas von der Welt gesehen, ist experimentierfreudiger geworden. Und wo könnte man das besser zeigen als bei sich zu Hause? Ein neues Biedermeier ist ausgebrochen. Die Maler, welche bei Ksenija arbeiteten, berichteten ihr, dass sich viele Kunden jetzt Deckengemälde wünschen. „Was pinselt ihr denn denen da hin?“, fragte sie. „Jedem, was er will“, antworteten die Maler. „Dem einen Schmetterlinge mit Brüsten, einem anderen Ikonen.“

Trainiert durch den in der Sowjetunion allgegenwärtigen Zwang zum Improvisieren und gebrannt im Umgang mit dem Dienstleistungssektor, sind Russlands Männer und Frauen fast geborene Heimwerker. Davon profitieren heute westliche Baumärkte und ein nordisches Möbelhaus (siehe Kasten). Ikea-Möbel gefallen hier wegen ihres bunten Frohsinns, widersprechen aber einer tief verwurzelten russischen Vorliebe fürs Massive, Unerschütterliche. Eigentlich soll das jetzt erworbene Mobiliar auch der übernächsten Generation noch ein sicheres Fundament bieten – wer weiß, was kommt.

Wer früher meilenweit fahren musste, um für eine Tapete Schlange zu stehen, findet heute im Prinzip alles zum Renovieren Notwendige unter freiem Himmel. Bretter, Stangen, Paneele, Nägel, Schrauben, Farben, Lacke, Türen, Rahmen, Sanitärtechnik werden in den russischen Großstädten auf Open-Air-Märkten aus Wohnwagen oder Zelten heraus verkauft. In der Zwölfmillionenstadt Moskau gibt es eine Handvoll solcher spezialisierter Basare von je mindestens einem Quadratkilometer Ausdehnung.

Auf Ksenijas Lieblingsbasar haben fast alle Stände mit der Zeit ein Dach erworben, einige sind sogar beheizt, manche doppelstöckig. Grellrote, blaue und gelbe Flyer und Fahnen mit Labels scheinen böse Geister vertreiben zu wollen. Mädchen verkaufen heißen Tee aus Thermoskannen. Ihre Füße schützen sie durch Stiefel mit hohen Plateausohlen vor der Kälte des gefrorenen Schlamms.

Die meisten Open-Air Verkäuferinnen stammen aus der Ukraine. Manche Hilfskräfte, zum Beispiel Lastenträger, arbeiten als so genannte „Sklaven“ für ein Butterbrot. Mafiaagenten behalten ihre Papiere ein. Doch die äußerlichen Formen des Unternehmertums sind trügerisch: Die Frau, die da wie eine Hausiererin mit Fotografien irgendwelcher Schrankwände vor ihrem soliden Bauch herum steht, beschäftigt sieben Angestellte.

Ksenija kommt fast jeden Sonntag her. Diesmal geht es um die Garderobe in ihrem Korridor. Ein paar mattgoldene Hutaufhänger stechen ihr ins Auge. Prüfend beklopft sie einen davon. „Ist das auch massives Messing?“, fragt sie die Verkäuferin. „Oder so ein hohles Zeug, von dem der Lack abblättert?“ Alles echt wird ihr versichert, also kauft sie und zieht halb zufrieden ab. Nun wird sie zwei weitere Stunden dazu passende Griffe für das Garderobenschränkchen suchen: „Nie findest du hier alles gleichzeitig.“

Die Balken für ihre Wohnung kaufte Ksenija schon am 8. März vergangenen Jahres, dem Internationalen Frauentag. Frauen waren da auf dem Markt kaum auszumachen, dafür waren alle anwesenden Männer festtäglich betrunken. „Ich brauche glatte Balken ohne Astlöcher“, sagte sie zu dem Besitzer einer Holz-Bude. Der entgegnete: „Wer sind Sie denn, dass wir Sie hier irgendetwas aussuchen lassen?“ Aber hinter der Bude stand ein Lastwagen voller Holz aus der Provinz, aus Archangelsk oder Kostroma. Wegen des Feiertags waren die Händler nicht zum Arbeiten aufgelegt und die Fahrer mussten warten. Sie riefen ihr zu: „Suchen Sie sich doch gleich hier was aus!“ Es war erstaunlich günstig. „Komisch“, sagt Ksenija. „Bei uns ist gutes Holz ohne Astlöcher billiger als Sperrholz.“

Alles, was Ksenija damals auf einem Lastentaxi heimfuhr, trugen die gerade bei ihr arbeitenden Fliesenleger in den vierten Stock. Das waren zwei Familienväter aus Schuja, die dort im Norden keine Arbeit finden konnten. Ksenija bezahlte sie zwar gut, stellte ihnen aber zusätzlich jeden Morgen einen Topf Reis mit Huhn auf dem Herd – „aus Mitleid“. Weil sie sich nur die billigsten Kacheln leisten konnte, trösteten die beiden sie: „Keine Sorge, wir verlegen Ihnen auch die superelegant.“

Der private Renovierungsboom hat in Russland eine neue Kaste von Handwerkern hervorgebracht. Sie arbeiten selbstbewusst, gewissenhaft und schwarz. Ihre Telefonnummern werden von Hand zu Hand weitergereicht. „Ich bin ausgebucht“ sagte Ljonja zu Ksenija, als sie ihn engagieren wollte. Einen Monat später kam der Schreiner doch und baute ihr neue Türrahmen. Früher arbeitete er als Wurstverkäufer in einem beliebten Delikatessengeschäft, heute hat Ljonja der Form halber irgendeine Teilzeitstelle. Ansonsten ist er freischaffend. Stolz zeigt er seinen großen Koffer mit deutschem Handwerkszeug und sagt: „Damit flutscht die Arbeit.“

Erholsamer würde Ksenija ihre Sonntage gestalten, wenn sie es sich leisten könnte, im ältesten Baumarkt vor Ort einzukaufen, im deutschen „Bauklotz“. Das Geschäft, seit 10 Jahren an der gleichen Adresse, füllt eine saubere Fabrikhalle von den Ausmaßen eines mittleren Supermarktes. Generaldirektor Kurt Glomp ist von Anfang an dabei gewesen. Inzwischen habe er in Russland schon ein paar Wurzeln geschlagen. Die neue Mega-Konkurrenz der Obi-Märkte betrachtet er darum zumindest äußerlich gelassen, denn er ist überzeugt, eine besondere Nische auf dem Moskauer Markt zu füllen. „Zu uns kommen schon eher Leute, die etwas wohlhabender sind“, sagt der Marktleiter. Mittelständler leisten sich hier hin und wieder etwas Besonderes, die reichen „Neuen Russen“ aber schlagen voll zu. „Mit Sonderangeboten brauchen wir unseren Kunden gar nicht erst kommen“, sagt Glomp. „Sie glauben dann, in der Ware steckt der Wurm.“

Da sich die immer noch staatlichen Moskauer Hausverwaltungen kaum um die Infrastruktur der Wohnungen kümmern, sind vor allem sanitäre Anlagen gefragt, Keramik aus Deutschland und Italien – auch Porzellan. Glomp schreitet an einer Mischbatterie vorbei, die der futuristische Revolutionsmaler Kasimir Malewitsch entworfen haben könnte – für 300 Euro. Whirlpools sind in. Die einzige konventionelle Wanne im Laden kostet 1.340 Euro. Sie hat die Form einer dicken Bohne und reicht zum Schwimmenlernen für Kleinkinder. Davon gehen drei bis fünf Stück im Monat weg. Ksenija hat sich auf dem Basar eine gusseisernen Wanne für knapp 100 Euro gekauft.

Natürlich können Sie auf dem Open-Air-Markt manchmal Sachen von gleicher Qualität billiger finden“, gibt Kurt Glomp großzügig zu. „Egal, wo diese Händler nun die Ware her haben.“ Kunden, die dort jedoch ihr Werkzeug kaufen, hält er offenbar für behämmert: „Auf so einem Basar kann es doch glatt passieren, dass Sie auf einem ganzen Quadratkilometer nur drei Sorten von Stichsägeblättern finden.“ Und wie viele Sorten gibt es hier im Geschäft? Der Manager geht leicht verwirrt nachzählen und kehrt triumphierend zurück: „Über fünfzig!“

Kaum sind die Weihnachtsbäume entsorgt, rüstet sich Glomp für die Datschensaison mit einer großen Gartenmöbel-Ausstellung, von allem das Neueste und Beste. Doch dieses Jahr müssen sich die Liebhaber des Landlebens gedulden. „In diesem Zustand kann unser Laden nicht sein zehnjähriges Jubiläum feiern“, bedauert Generaldirektor Glomp. „Vorher müssen wir noch gründlich renovieren.“

*Name von der Redaktion geändert