Komisches Scheitern an Schaubildern

Die Wahrheit-Serie „Die wirrsten Grafiken der Welt“ von Gerhard Henschel ist jetzt in Buchform erschienen

Versuchen Sie einmal aus dem Stegreif heraus, eine wirre Grafik zu zeichnen

Beinahe jeder Erwachsene hat schon einmal versucht, Strichmännchen wie ein Kind zu zeichnen – und ist gescheitert. Figuren ohne Hälse oder Körper, denen Hände ohne Arme entwachsen, lassen sich nicht einfach aufs Blatt bringen. Die Zeichnungen werden leicht als Täuschungen erkannt. Denn jeder Strich führt die Erfahrungen des erwachsenen Zeichners mit sich. Nur große Künstler wie Picasso oder die Rattelschnecks besitzen die besondere Fähigkeit, ihre Erfahrungen auf einige wenige Striche zu reduzieren und dem kindlichen Witz nahe zu kommen.

Ähnlich verhält es sich mit den wirren Grafiken. Versuchen Sie einmal aus dem Stegreif heraus, eine wirre Grafik zu zeichnen. Dazu braucht es ebenfalls eine besondere Fähigkeit, allerdings ist es in diesem Fall genau umgekehrt: Komplizierte Themen müssen in noch kompliziertere Schaubilder übersetzt werden. Überbordendes Wissen wird nicht auf das Wesentliche reduziert, sondern ins Paralleluniversum der Grafik transportiert und verdoppelt.

Jahrelang hat Wahrheit-Autor Gerhard Henschel mit Unterstützung der Wahrheit-Leser Grafiken gesammelt. Die Serie „Die wirrsten Grafiken der Welt“ hat sich schnell zu einer der beliebtesten Rubriken der Wahrheit entwickelt. Hunderte Leserbriefe haben Henschel erreicht, der aus diesem Fundus jetzt ein aufwendig gestaltetes Buch zusammengestellt hat.

Blättert man in dem Band und betrachtet noch einmal die gebündelten Schaubilder, ist man erst einmal verblüfft. Jedes Wissensgebiet kann zum Gegenstand einer wirren Grafik werden: von der Herkunft der Slawen, über die Rockmusik oder die Sexualität bis zum lieben Gott. Liest man sich tiefer ein in die seltsame Welt der Schaubilder, folgt das nächste Erstaunen: Die „wirren Grafiken“ sind tatsächlich eine eigenständige Kunstform – eine Kunst, die nach den Regeln der Komik funktioniert.

Zunächst braucht es die Einstimmung: Jeder Wahrheit-Leser, der spätestens nach den Siebzigerjahren an einer deutschen Universität studiert hat und mit Massen von Schaubildern konfrontiert worden ist oder gar selbst welche gezeichnet hat, erkennt sich sofort im wirren Grafiker wieder und lacht erst einmal über seine persönlichen Erfahrungen. Bei näherer Betrachtung der Grafik zeigt sich dann der zentrale komische Effekt: das Scheitern. Der wirre Grafiker möchte komplexe Themen simplifizieren und erreicht genau das Gegenteil. Eine lächerliche Wirkung, die durch Henschels entlarvende Kommentare noch verstärkt wird. Der Autor bahnt dem Leser mit der Machete des Verstands einen Weg durch die wild wuchernden Lianen des Grafikdschungels. Ein sprachliches Bild, das jeder Leser schleunigst in eine wirre Grafik übertragen sollte – mit vielen Dreiecken und Kreisen und Quadraten; gefüllt mit Worten wie „Erfahrung“, „Scheitern“ und „Komik“; verbunden durch dicke und dünne Pfeile. Fertig ist die anschauliche Erklärung, was das Wesen der „wirrsten Grafiken der Welt“ ausmacht.

Alles in allem: Ein wundervolles Buch – komisch wie Kafka, sanft wie eine Meeresbrise und prachtvoll wie ein Smaragd. Durch dieses Werk wird unsere Welt einstweilen übersichtlicher.

MICHAEL RINGEL

Gerhard Henschel: „Die wirrsten Grafiken der Welt“. Hoffmann & Campe, Hamburg 2003, 175 Seiten, 24,90 € Ľ„Die wirrsten Grafiken der Welt“. Ein vertonter Lichtbildervortrag von Gerhard Henschel. Freitag, 28. März 2003, 20 Uhr, Wissenschaftszentrum Berlin, Reichpietschufer 50. Gastredner: Dietmar Jazbinsek (Schaubildforscher, WZB) und Michael Rutschky (Essayist).